Alexander Roob]
[January 1, 2015
Denkt an Horthy! Die interventionistische Kunst von Mihály Biró.
Im Rahmen der Ausstellung „Turning Points. The Twentieth Century through 1914, 1939, 1989 and 2004“ in der Ungarischen Nationalgalerie Budapest ist das Melton Prior Institut mit einer umfangreichen Installation vertreten. Das Arrangement „Gondolj Horthyra / Think about Horthy,” mit der die Ausstellung zur wendungsreichen Geschichte des 20. Jahrhunderts am Beispiel Ungarns eingeleitet wird, konfrontiert zwei exponierte Werke ungarischer Grafik, die im Land selbst aus verschiedenen Gründen seit Jahrzehnten dem Blick der Öffentlichkeit entzogen waren. Es handelt sich in beiden Fällen um Dokumentationen von Krieg, Folter und Terror: der legendäre Horthy-Zyklus von Mihály Biró (1886–1948), der im Zusammenhang mit einer Präsentation der Entwicklungsgeschichte seiner interventionistischen Kunst im Kontext europäischer Revolutionsgrafik vorgestellt wird, sowie ein Zyklus über den Korea-Krieg von Bencze László (1907 -1992), der dreissig Jahre später entstanden ist.
Letzteres Werk, eine Serie von vierzehn Federzeichnungen von Bencze László aus den Beständen der Ungarischen Nationalgalerie mit dem Titel „Gondolj Koreara / Think about Korea“ gewann 1952 den renommierten Kossuth-Preis und wurde anschließend als druckgrafische Mappe verbreitet. Zentrales Thema der grafischen Folge ist das Massaker bei Sichon in Nordkorea, dem im Herbst und Winter 1950 mehr aus dreißigtausend überwiegend Zivilisten zum Opfer gefallen waren. Von kommunistischer Seite wurden die Kriegsgräuel der amerikanischen Invasionsarmee zugeschrieben. Wie Picassos berühmtes Gemälde „Massacre en Corée“ (1951) ist auch Lászlós Zyklus vom Vorbild Goyas inspiriert. Motivisch und strukturell ist auch ein Einfluss der chinesischen Holzschnittbewegung unter Lu Xun auszumachen, von Künstlern wie Li Hua, Zhao Yannian oder Zheng Yefu.
Bencze László, aus: Gondolj Koreara, Budapest 1952
Im Gegensatz zu der idealisierten Herangehensweise Lászlós, die die dargestellten Schreckensszenen in eine formelhafte Ferne rücken, sind Mihály Birós grafische Interpretationen von Untersuchungsberichten des weißen Terrors und der antisemitischen Pogrome in Ungarn in ihrem ungekünstelten drastischen Zugriff noch heute in der Lage zu berühren und zu schockieren. Zwei Kopien dieses lithografischen Zyklus, der 1920 im österreichischen Exil unter dem Titel „Horthy“ veröffentlich wurde, befinden sich zur Zeit im Magazin des Nationalmuseum Budapest. Die Serie hat nichts von ihrer Brisanz eingebüßt, ganz im Gegenteil. Der namensgebende Reichsverweser Miklós Horthy, der als Oberbefehlshaber der Nationalarmee international für die Gräueltaten verantwortlich gemacht wurde, erfährt mittlerweile im feudal-nationalistischen Klima unter Viktor Orbán eine breite, von der Regierungspartei getragene Rehabilitierung. Horthy ist die zentrale Symbolfigur, die die agressive Magyarisierungspolitik der ungarischen Aristokratie am Vorabend des 1. Weltkriegs nicht nur mit 1944, sondern auch mit dem Status quo von 2014 verbindet.
Mihály Biró: Horthy, Wien 1920 (Ausstellungsansicht )
Mihály Biró: „Run faster you damned…!“, Horthy, Wien 1920
Mihály Biró: „Look at that jewish father of yours!“, aus: Horthy, Wien, 1920
Mihály Biró: The beasts!, aus: Horthy, Wien, 1920
Die Grundlagen für diese Darstellungen des Weißen Terrors waren ein ausführlicher Untersuchungsbericht des englischen Parlamentariers Josiah C. Wedgewood, sowie private Berichte und weitere offizielle Dossiers. Biró folgte diesen Nachrichten grafisch oft in allen Einzelheiten, nahm sich jedoch die Freiheit das Staatsoberhaupt im Sinn einer Anklage mehrfach in die Serie hineinzuprojizieren.
Mihály Biró: „The legal order“ re-established !, aus, Horthy, Wien 1920
Mihály Biró: „The govenor” has a good time, aus, Horthy, Wien 1920
Mihály Biró: “Hurry up! The mission is at the door!” , aus, Horthy, Wien 1920
Neben der lithographischen Portfolio-Version zeichnete Biró noch eine verkleinerte Postkartenedition des Terror-Zyklus. Die unmittelbaren Folgen dieser Publikationstätigkeit mussten für ihn absehbar gewesen sein. In Abwesenheit wurde gegen ihn ein Haftbefehl in Ungarn sowie eine andauernde Verweisung des Landes erlassen, die erst 1943, wenige Jahre vor seinem Tod, aufgehoben wurde.
Begleitet wird die Ausstellung der beiden grafischen Zyklen von einer Vitrinenpräsentation mit Materialien aus den Beständen des Melton Prior Instituts, die die Entwicklungsgeschichte von Mihály Birós einflußreicher sozialistischer Grafik im Rahmen der französischen Pressegrafik und der russischen Revolutionsgrafik anschaulich macht.
Der rote Säemann
Im Verlauf seiner Ausbildung an der „Guild of Handicraft“ in Chipping Camden kam Mihály Biró in Berührung mit einer auf der Arbeit des Xylografen und Dichters William James Linton und seines Schülers Walter Crane zurückgehenden Tradition interventionistischer Kunst. Biró kompilierte in der Nachfolge Cranes Motive der französischen Revolutionsgrafik und verlieh ihnen eine neue ikonische Prägnanz. Nach seiner Flucht aus Ungarn illustrierte er vor allem Kampagnen der österreichischen Sozialdemokraten. Er arbeitete auch für „Der Wahre Jacob“, das verbreitetste deutschsprachige Satiremagazin der Zeit, das im sozialistischen J.H.W.-Dietz-Verlag in Stuttgart und in Berlin erschien.
J. J. Grandville, „Je séparerai l’ivraie du bon grain“ (Jésus Ch.), aus: La Caricature, Paris, 6. October 1831, Lithographie (MePri – Collection)
Die republikanischen Kampagnen, die das Verlagshaus Aubert in Paris unter seinem Herausgeber, dem Karikaturisten Charles Philipon zwischen 1830 und 1835 initiierte, bilden einen zentralen Ausgangspunkt für die Entwicklung sozialistischer Grafik weltweit.
Pilotell, Croquis Revolutionnaires: La Commune arretée par l´Ignorance à la Réaction, Paris 1871, schablonenkolorierter Holzstich (MePri – Collection)
Der Karikaturist Georges Pilotell war einer der produktivsten künstlerischen Propagandisten der Pariser Kommune. Mit der Herausgabe der Zeitschrift „La Caricature politique” reihte er sich unmittelbar in die Nachfolge von Charles Philipon ein.
Hans Gabriel Jentzsch, Die Sozialdemokratie und ihre Feinde, aus: Der Wahre Jacob, Stuttgart, 10. April 1900, Gillotage (MePri – Collection)
Hans Gabriel Jentzsch, Vorwärts (nach Walter Crane), aus: Der Wahre Jacob, Stuttgart, 15. März 1900, Gillotage (MePri – Collection)
Walter Crane, In Memory of the Paris Commune, March 1891, aus: Cartoons for the Cause – Designs and Verses for the Socialist and Labour Movement, London 1896 (MePri – Collection)
Walter Crane gehörte zusammen mit William Morris zu den Gründungsmitgliedern der Socialist League. Seine politischen Cartoons zeichnete er für englische Parteizeitungen wie „Justice“ und „The Commonweal“. Durch Abdrucke in kontinentalen und transatlantischen Periodika fanden sie schnell internationale Verbreitung.
Mihály Biró, Der rote Säemann, aus: Der Wahre Jacob, Berlin, 24. November 1928, Offset (MePri – Collection, Düsseldorf)
Vois – sa force…
Birós Markenzeichen des roten „Superman”, das er 1912 für die sozialdemokratische Partei Ungarns (SDPU) entwickelte, folgt dem bildnerischen Topos des Arbeitergiganten aus der Ära der bürgerlichen Revolution von 1830 und der Pariser Kommune. In der Folgezeit variierte Biró dieses herkulische Emblem unzählige Male und schrieb sich damit auch in die Entwicklungsgeschichte bolschewistischer Ikonografie ein.
Anon., “Vas-t’en donc imbécile, je suis trente trois millions de fois plus fort que toi“, aus: Magasin de Caricatures, Paris 21. August 1830, Lithographie (MePri – Collection)
Das von Philipon herausgegebene Blatt demonstriert die gigantische Proportion des Citoyen im Vergleich zur Winzigkeit des letzten französischen Bourbonenherrscher Karl X. Kurze Zeit später wurde dieser durch die Ereignisse der Julirevolution hinweggefegt. Die Grafik war die Vorlage zu Daumiers äußert einflussreicher Lithografie „Ne vous y frottez pas!! – Liberté de la Presse“ von 1834, in der ein überdimensionaler jakobinischer Drucker zum Schrecken der versammelten Miniatur-Monarchen und Kleriker seine Muskeln spielen lässt.
Honoré Daumier, „Ne vous y frottez pas!! – Liberté de la Presse”, 1834
John Tenniel, “The Brummagem Frankenstein”, in: Punch Magazine, London 8 September 1866
(MePri – Collection)
G. Bar, Actualites – „Le peuple te comprends! … Vois – sa force…”, Paris 1871, schablonenkolorierter Holzstich (MePri – Collection)
Mihály Biró, „Munkások! Polgárok!…”, Budapest, 1912, (Postkartenversion)
Mihály Biró, Népszava, Budapest, 1912, (Postkartenversion)
Vladimir Mayakovsky, Ausschnitt aus GPP # 141, Moskau, April 1921
A. Strakhov, V.I. Ul´yanov (Lenin), 1924
Explosive Karikaturen
1901 gründete der aus Budapest immigrierte libertäre Buchhändler und Verleger Samuel-Sigismond Schwarz in Paris das legendäre Karikaturmagazin „L´Assiette au Beurre”. Der Titel des wöchentlich erscheinenden Periodikums, das ausschließlich auf die Überzeugungskraft von Bildern setzte, suggerierte nichts weniger als eine radikale Umverteilung der bestehenden Besitzverhältnisse. Indem er ihnen keinerlei redaktionelle und stilistische Beschränkungen auferlegte und dazu noch eine massenhafte Verbreitung in akzeptabler Abbildungsqualität garantierte, gelang es Schwarz die experimentierfreudigsten Künstler der Pariser Szene zu involvieren, darunter Kees van Dongen, Jules Grandjouan, Juan Gris, Gustave-Henri Jossot, Frantisék Kupka, Theophile Steinlen, Felix Vallotton und Jacques Villon. Obgleich das Magazin in vielen Ländern verboten oder zensiert war, übten das grafische Feuerwerk und der anarchistische Furor, die hier entzündet wurden, einen immensen internationalen Einfluss aus, nicht zuletzt auch auf die Entwicklung der russischen Revolutionsgrafik.
Jules Grandjouan, „A bas les Monopoles“, aus: L´Assiette au Beurre # 149, Paris, 6. Februar 1904, Gillotage (MePri – Collection)
Georges d´Ostoya, Les Slaves / Slované, aus: L´Assiette au Beurre # 390, Paris, 9. September 1908, Gillotage (MePri – Collection)
Zymunt Brunner, Le village de Czernowa est calem…, aus: L´Assiette au Beurre # 390, Paris, 9. September 1908, Gillotage (MePri – Collection)
Ludvík Strimpl, Les Slaves / Slované, aus: L´Assiette au Beurre # 390, Paris, 9. September 1908, Gillotage (MePri – Collection)
Zentrales Thema dieser Spezialausgabe ist die ethnische Ausgrenzung der slowakischen Bevölkerungsanteile durch die Magyanisierungspolitik der ungarischen Aristokratie, die durch das Massaker von Czernová international am Pranger stand.
Dimitros Galanis, Le Tzsar Rouge, aus: L´Assiette au Beurre # 261, Paris, 4. Februar 1905, Gillotage (MePri – Collection)
Gabriele Galantara, Vive la Russie, aus: L´Assiette au Beurre # 254, Paris, 10. Februar 1906, Gillotage (MePri – Collection)
Gabriele Galantara, Vive la Russie, aus: L´Assiette au Beurre # 254, Paris, 10. Februar 1906, Gillotage (MePri – Collection)
Anon., Der rote Michel, aus: Der Wahre Jacob, Stuttgart, 4. Januar 1910, Gillotage (MePri – Collection)
Maximilian Vanselow, „Prosit Neujahr!“, aus: Der Wahre Jacob, Stuttgart, 1. Januar 1912, Gillotage (MePri – Collection)
“Turning Points. The Twentieth Century through 1914, 1939, 1989 and 2004“, curated by Zsolt Petrányi and Vitó Vonits Purcsár, Hungarian National Gallery Budapest, 14 November 2014 until February 15, 2015. Exhibiting artists: Johanna Kandl, Andreas Fogarasi, Josef Dabernig (Austria), Katerina Šedá (Czech Republic), John Timberlake (England), Kristina Norman (Estonia), Société Réaliste (France), Clemens von Wedemeyer, Melton Prior Insitute (Germany), Shy Abady (Israel), Paolo Ventura (Italy), Motoyuki Shitamichi (Japan), Artur zmijewski (Poland), Iosif Kiraly (Romania), Mikyta Svatopluk (Slovakia), Laibach/Neue Slowenische Kunst (Slovenia), Democracia, Javier de Villota (Spain), Istvan Balogh (Switzerland), and the Hungarian artists: Zsolt Asztalos, Zsolt Bodoni, Péter Forgách, Szabolcs Kispál, Adrián Kupcsik, János Sugár and Attila Szucs.
Dank an Jutta Gehrig (Goethe Institut Ungarn) und Zsolt Petrányi (Ungarische Nationalgalerie Budapest) für ihre frendliche Unterstützung.