Rudolf Herz]
[June 21, 2012
“Die technische Zeichnung war die Antwort” – August Greß, der Ingenieur hinter dem Grossen Glas von Marcel Duchamp
Die drei Monate, die der fünfundzwanzigjährige Marcel Duchamp von Ende Juni bis Ende September 1912 in München verbracht hatte, werden von der Forschung als die rätselhafteste und zugleich folgenreichste Episode seiner künstlerischen Laufbahn gewertet. Duchamp selbst nannte seinen Aufenthalt in der bajuwarischen Metropole, die ein kulturelles Vibrationszentrum der Zeit war, in einem Vortrag von 1964 den Ort seiner „völligen Befreiung”. Was genau er damit meinte, musste allerdings unklar bleiben, denn der Meister der Verrätselung und der Indifferenz hatte die Spuren seiner Münchenvisite sorgsam zu verwischen gesucht. In Interviews ließ er lediglich durchblicken, dass er dort eine Zeit strenger künstlerischer Klausur verlebt hatte. In einem Hotel habe er logiert und kaum Kontakte zu lebenden Personen gepflegt. Regelmässigen Umgang habe er nur mit den verstorbenen Meistern der alten Pinakothek gehabt. Spätestens mit Auffindung des polizeilichen Meldebogens konnten diese Angaben jedoch als Akt der Selbstmystifizierung enttarnt werden, denn der Einsiedler hatte seine Zeit keineswegs als Hotelgast verbracht, vielmehr hatte er sich in der Wohnung des Ingenieurs August Greß und seiner Ehefrau Theresa in der Barerstraße 65 eingemietet. Mit diesem Tatbestand hatten sich frühere Rechercheure zufrieden gegeben, denn ein so prosaisches Mietverhältnis schien im Kontext kunsthistorischer Forschung kaum der Rede wert, außerdem stand das Miethaus in der Barerstraße als Beweismittel nicht mehr zur Verfügung, denn es war im Krieg zerstört worden.
Barer Straße, um 1910, Ansichtskarte, rechts vorne im Bild verdeckt: Barer Straße Nr. 63 und 65
Bauplan 1898, Barer Straße 65, Grundriß Wohnung 2. Stock links, (Akten der Lokalbaukommission München, Stadtarchiv München)
An diesem wenig aussichtsreichen Punkt setzte die Arbeit des Künstlers und Medienforschers Rudolf Herz ein. Herz war in den frühen neunziger Jahre im Zug seiner Nachforschungen zu Hitlers Leibfotografen Heinrich Hoffmann auf das Mysterium von Duchamps Münchner Zeit gestossen, denn Duchamps Besuch des Fotostudios von Hoffmann zählt zu wenigen Evidenzen seines Aufenthalts. Er hatte sich dort für ein Publikation von Guillaume Apollinaire über kubistische Maler ablichten lassen, und das, obgleich er gerade dabei war, sich von dieser künstlerischen Strömung zu lösen. Als frustrierte Maler, dessen „Akt, eine Treppe herabsteigend“ von der kubistischen Orthodoxie aus dem Pariser Salon des Indépendants ausgeschlossen worden ist, war er nach München angereist, als angehender Konzeptkünstler hatte er die Stadt nach den wenigen Monaten wieder verlassen, mit sich im Gepäck die ersten Entwürfe für das große Glas und eine „trockene“ Anschauung von Plastik, die sich kurze Zeit später in der Realisation des ersten Readymades niederschlagen würde.
Das Rätsel, welche Auslöser es für diesen Paradigmenwechsel in München gab, hat die Forschung seit geraumer Zeit beschäftigt. Kurz vor seiner Abreise hatte er sich für die Theorie der vierten Dimension zu interessieren begonnen. Im Gegensatz zu seinen kubistischen Künstlerkollegen wollte er die Thesen der nichteuklidischen Geometrie auf eine eher analytische Weise durchdringen und darauf eine neue Kunst gründen. Man spekulierte über Offenbarungen, die ihm in diesem Zusammenhang in der technischen Schausammlung des Deutschen Museums zuteil geworden sind, doch vergleichbare Sammlungen zur Industriekultur gab es auch in Paris. Die Nachforschungen von Rudolf Herz haben solchen Vermutungen ein erstaunlich dichtes Gewebe aus harten Fakten hinzugefügt, aus dem sich nunmehr ein viel plastischeres Bild von Duchamps Münchner Zeit extrahieren lässt. Er hat weitere Dokumente zu Tage gefördert, darunter einen Grundriss der Wohnung, eine Zeitungsannonce und Lebensläufe. Herz selbst hat die räumliche Dimension seiner vielfältigen und langwierigen Recherchen in einer eindrücklichen Außenskulptur konkretisiert. Die „gebaute These“ ist vom 21. Juni an, dem Jahrestag von Duchamps Ankunft in München, drei Monate lang vor der Alten Pinakothek an der Barerstr. zu sehen. Sie stellt die Wohnung des Ehepaar Greß, in der Rudolf Herz „die Wiege der Konzeptkunst“ vermutet, als Modell im Maßstab eins zu eins vor, gekippt um neunzig Grad.
Rudolf Herz: Le mystère de Munich. Modell 1: 50, Aufnahme: Hans Döring
Rudolf Herz: Le mystère de Munich. Skulptur vor der Alten Pinakothek, Montage: Hans Döring
Die Skulptur vermittelt eine Tatorteinsicht, die dem kriminalistischen Spürsinn einen breiten Spielraum gewährt. Die Anordnung der Zimmer macht klar, dass der französische Untermieter sich in diesen Verhältnissen nur schwer separieren konnte. In sein Atelierzimmer konnte er kaum gelangen, ohne dabei nicht den Artefakten von Frau Greß, die ein eigenes Auskommen als Damenschneiderin hatte, zu begegnen. Hier eröffnete sich ihm eine Welt von Schnitt- und Musterbögen, von Schneiderpuppen und technischen Zeichnungen, die sein Werk ab dato regieren sollte. Es ist ein Verdienst der Rekonstruktionsarbeit von Rudolf Herz, dass sie Duchamps Bekanntschaften nicht weiter marginalisiert, sondern ihnen soweit wie möglich eine autonome biografische Kontur verleiht. So zeichnet sich im Nebel des Münchner Mysteriums die Gestalt eines weltgewandten und weitgereisten Ingenieurs ab, der nicht bloß Techniker, sondern auch Spezialist für technische Illustrationsgrafik mit einem breiten intellektuellen Horizont war.
Deutsche Wäsche-und Handarbeitszeitung, Schnittmuster-Bogen Nr. 39,H. 3, Jg. 1911
Marcel Duchamp: Neun männische Gußformen (Neuf moules mâlic), 1914/1964
August Greß
August Greß’ Laufbahn ist nicht nur biografisch interessant, sondern auch deshalb, weil sich hier in exemplarischer Form zeittypische Strömungen der modernen Technik treffen: Massenmobilität und Massenguttransport, globale Elektrifizierung, Internationalisierung von Kommunikation und Handelsbeziehungen und die Verwissenschaftlichung und Professionalisierung von Handwerk und Gewerbe. Später schließlich die Geschützproduktion bei Krupp.
Greß hatte bei der Firma F.A. Maffei, einem der größten Münchner Industriebetriebe, zunächst als Volontär in verschiedenen Werkstätten begonnen. Ende 1909 nahm er dann eine Ingenieursstelle bei der C.A.T.E. (Companía Alemana Transatlántica de Electricídad) in Buenos Aires an. Wie er in seinem Lebenslauf schreibt, war er dort „als Betriebsführer in der elektro-mechanischen Werkstätte beim Bau des neuen Kraftwerkes Doc Sud angestellt“, um nach dessen Fertigstellung zum Betriebsleiter zu avancieren. Es überrascht, dass man dem 22–Jährigen eine derartige Position anvertraute, zumal er bis dahin noch nie in einer führenden Stellung tätig gewesen war. Die Firma muss einiges auf den jungen Münchner Ingenieur gegeben haben. Nach gut einem Jahr kehrte er aus Buenos Aires nach München zurück, trat in die Redaktion der „Illustrierten Technischen Wörterbücher“ des Oldenbourg Verlags ein und übernahm alsbald die Aufsicht über den dortigen Zeichensaal – bis zu dessen Auflösung Ende 1911. Bei Oldenbourg war er schon 1909 aushilfsweise als „Zeichner für kleinmaßstäbliche Zeichnungen“ tätig gewesen. Nach einem kurzen Intermezzo bei der Münchner Firma C. Mohn, Mühlenbau und Maschinenfabrik, kehrte er im April 1912 zurück zu F.A. Maffei, um schon Mitte 1914 mit dem „Polytechnischen Verein“ über die Übernahme der Stelle des Sekretärs zu verhandeln, die er kriegsbedingt allerdings erst Anfang 1919 antreten konnte.
Zeichensaal im Büro der Illustrierten Technischen Wörterbücher (R. Oldenbourg Verlag München), Fotografie in Werbeprospekt, 1909
Das war eine bemerkenswerte Laufbahn. Greß übernahm abwechslungsreiche Positionen bei renommierten Unternehmen. Das Berufsfeld des Ingenieurs hatte sich im Zuge der vielfältigen technischen Aufgaben enorm ausdifferenziert, es gab Forschung, Entwicklung, Konstruktion und Fertigungsüberwachung. Der Konstrukteur war das „Ziel- und Leitbild der Ingenieursausbildung“ und der Maschinenbau die wichtigste Sparte. Sicherlich, die Fähigkeit zur zeichnerischen Darstellung war eine Schlüsselkompetenz des Ingenieurs beim Planen und Entwerfen. Die von den Schulen kommenden Jungingenieure hatten „unten“ als Zeichner anzufangen. Selbst Emil Rathenau, der spätere Gründer der AEG, musste bei der Berliner Lokomotivenfabrik Borsig als Zeichner einsteigen, obwohl er ein Maschinenbaustudium vorzuweisen hatte. Insofern begann Greß’ Karriere ganz typisch. Doch kennen wir bislang keine Konstruktion, kein ingenieurstechnisches Werk, keine Maschine, deren Urheber Greß ist. Es war nicht üblich, Konstruktionszeichnungen namentlich zu kennzeichnen. Auch das Impressum der Wörterbücher führt keine Zeichner an.
1. F.A. Maffei
Bei F.A. Maffei war Greß im „Büro Beer“ tätig. Zu welchem Firmenbereich das „Büro Beer“ gehörte und worin Greß’ Aufgabenbereich bestand, ist nicht genau zu klären. Zu den berühmten Konstrukteuren von Maffei-Lokomotiven wie Anton Hammel oder Heinrich Leppla gehörte Konrad Beer (1870–1921) nicht. In den überlieferten Firmenunterlagen finden sich keine weiteren Hinweise. Die befragten Enkelkinder Beers vertreten verschiedene Ansichten über die Tätigkeit ihres Großvaters. Für die einen war er im Dampf-Lokomotivenbau und an der Entwicklung von Elektrolokomotiven beteiligt, andere sehen in ihm den Ingenieur von stationären Turbinen- und Dampfkraftanlagen.
Die Lokomotivenfabrik F.A. Maffei war 1838 gegründet worden und lange Zeit die erste Adresse für Lokomotiven im süddeutschen Raum. Sie geriet 1931 in Konkurs und wurde vom Münchner Konkurrenten Krauss übernommen. Bis dahin hatte die Firma etwa 5000 Dampf- und Elektrolokomotiven hergestellt. Die Fabrik lag in der Hirschau, im nördlichen Englischen Garten. 1912 herrschte Hochkonjunktur, in der Vorkriegszeit arbeiteten zeitweilig über 2000 Beschäftigte bei Maffei. Da es im Lokomotivenbau einen unregelmäßigen Auftragseingang gab, fabrizierte die Firma zudem stationäre Dampfkraftanlagen, Dampfschiffe und Dampfpressen und gründete eine Tochterfirma für den Bau von Dampfturbinen.
J. A. Maffei: undatierte Konstruktionszeichnung, Blaupause.
Die Bahngesellschaften verlangten für die immer schwerer werdenden Züge entsprechend leistungsfähigere Schnellzuglokomotiven. Krönung, Abschluss und für viele Zeitgenossen auch ästhetischer Höhepunkt des Dampflokomotivenbaus war die Entwicklung der Lokomotive S 3/6, die über 150mal gebaut wurde. 1906 erzielte die Maffei-Lokomotive S 2/6 mit 154 km/h einen Geschwindigkeitsweltrekord für Dampflokomotiven. F.A. Maffeis Lokomotiven waren weltweit im Einsatz, im Ersten Weltkrieg war die Firma zentral für die deutsche Kriegswirtschaft. In Zusammenarbeit mit dem Heereswaffenamt konstruierte Maffei bzw. Krauss-Maffei seit Ende der zwanziger Jahre Halbkettenfahrzeuge, dann auch Panzer. Im Zuge der deutschen Wiederbewaffnung nach dem Zweiten Weltkrieg wurden der Kampfpanzer Leopard 1 (1965) und sein Nachfolger Leopoard 2 (1979) entwickelt, die zum Verkaufsschlager im internationalen Waffengeschäft avancierten. Die Lokomotivensparte (u.a. Magnetschwebebahn und ICE) ist seit 2001 in die Siemens AG integriert.
2. Illustrierte Technische Wörterbücher
Als Zeichner war Greß an einem der ehrgeizigsten und kostspieligsten Buchprojekte, den „Illustrierten Technischen Wörterbüchern“ (ITW), beteiligt. In diesem Fall haben wir über das Umfeld und seine Tätigkeit genaue Informationen. Die Idee für die Wörterbücher ging auf den Ingenieur Alfred Schlomann zurück. Er wollte der „wissenschaftlichen Bedeutung der deutschen Technik“ und der „wirtschaftlichen Entwicklung der deutschen Industrie, die sich weit über Deutschlands Grenzen ausgedehnt hätten,“ Rechnung tragen und die Sprachbarrieren überwinden helfen. Von bestehenden Wörterbüchern sollten sich die ITW durch ihre Internationalität, ihre Bearbeitung durch Fachingenieure und eine nach Spezialgebieten gegliederte Ordnung unterscheiden. Den Mittelpunkt bildeten die technischen Darstellungen. Schlomann war davon überzeugt: „Die technische Skizze bildet … die Seele aller internationalen Verständigung.“ Und schrieb: „Aber jeder technische Ausdruck bezeichnet eine Sache, die man durch eine einfache Skizze oder eine chemische oder mathematische Formel haarscharf und zweifelsfrei hinstellen kann. Was beispielsweise ein Gelenkflansch oder eine Einsatzstopfbuchse oder ein massiver Kreuzkopf ist, oder was das Klettern des Riemens bedeutet, das lässt sich sprachlich nur sehr umständlich und niemals erschöpfend genau definieren. Die Skizze dagegen zeigt es in wenigen Strichen. Und die Skizze hat den enormen Vorteil, dass sie international ist, dass sich jeder einzelne in seiner Sprache deutet. Mit wenigen Strichen können wir beispielsweise eine Schraube hinzeichnen. Die Leute, die sich sonst gar nicht verständigen können, werden für die Skizze sofort den Namen in ihrer Muttersprache haben.“
Illustrierte Technische Wörterbücher, Band 3, München 1908
Für die Herausgabe der Nachschlagewerke hatte Schlomann den Verlag R. Oldenbourg in München gewonnen. Man entschied sich für sechs Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Italienisch und Spanisch), baute ein zentrales Redaktionsbüro mit zwanzig Mitgliedern und einen internationalen Stab mit etwa tausend freien Mitarbeitern auf und veranstaltete in Zusammenarbeit mit Technischen Hochschulen und Industrie regelmäßige internationale Konferenzen. Der erste Band „Die Maschinen-Elemente und die gebräuchlichsten Werkzeuge“ kam 1906 heraus.
Nach seiner Rückkehr aus Argentinien übernahm er bald auch die Leitung des dortigen Zeichensaals, der einem Ingenieur unterstellt war, um das Arbeitsaufkommen zu koordinieren. Es ging um die Bewältigung beträchtlicher Massen an präzisen Zeichnungen. Die Bände enthielten zwischen 2200 und 15000 Wortpositionen. Im Finanzplan von 1912 hieß es zum Arbeitspensum: „Auf drei Wortpositionen kommt durchschnittlich 1 Zeichnung. Da die Jahresleistung des Redaktionsbureaus 10000 Wortpositionen umfasst, so muss mit einer Herstellung von rund 3300 Zeichnungen pro Jahr gerechnet werden. Ein Zeichner erledigt im Durchschnitt pro Monat 100 Zeichnungen. Mit Rücksicht auf den Urlaub, größere Feiertage und Krankheiten darf nur eine Leistung von 11 Monaten angenommen werden. Es sind somit 3 Zeichner im Jahre ständig zu beschäftigen, von denen jeder 1100 Zeichnungen erledigt, so dass insgesamt von den 3 Zeichnern die zu den 10000 Wortpositionen erforderlichen rund 3300 Zeichnungen geschaffen werden.“
Bis 1911 waren elf Wörterbücher erschienen, dann stockte das Unternehmen. Ursprünglich war man davon ausgegangen, dass die redaktionelle Bearbeitung einer Wortposition 1,50 Mark kosten werde, faktisch waren es jedoch 10 Mark. Das gesamte Buchprojekt geriet in eine Schieflage, die Kosten waren auf allen Ebenen explodiert, und zugleich hatte sich der Absatz der Wörterbücher nicht wie erhofft entwickelt. Erst nach einer Subventionierung durch „Kreise der Technik“ war der Verlag bereit, die Reihe fortzusetzen. Band 12 erschien im März 1915. Es war ein verwegenes Unternehmen, den unübersehbaren, sich permanent erweiternden Kosmos der Technik zu bewältigen. Geplant waren 30 Bände. Auch wenn der Aktualitätsdruck vielleicht noch nicht so groß war, befand sich das Projekt im Wettlauf mit der Zeit, da technische Innovationen berücksichtigt werden mussten und die Bände zum Teil schnell veralten ließen. Dazu kam der große Anspruch der Herausgeber auf Zuverlässigkeit und internationale Verbindlichkeit und Rücksprache. Die Korrekturfahnen eines Bandes wurden beispielsweise in 500 Abzügen verschickt.
3. C.A.T.E. / Dock Sud
August Greß kam zum Jahreswechsel 1909/10 im Auftrag der C.A.T.E. nach Buenos Aires, um am Ausbau der Stromversorgung mitzuwirken, und war an der Erweiterung der „Zentralstation für Drehstrom“ in Dock Sud beteiligt. Die C.A.T.E. war das größte Stromversorgungsunternehmen Argentiniens und hatte ein Monopol für Strom in Buenos Aires. 1898 von der AEG und einem Bankensyndikat unter Führung der Deutschen Bank gegründet, avancierte die Firma zum größten deutschen Auslandsunternehmen vor dem Ersten Weltkrieg. Ziel war, Südamerika mit Strom zu versorgen und Straßenbahnen, die noch von Pferden gezogen wurden, zu elektrifizieren. Dieses lukrative Erfolgsmodell weitete das Unternehmen auf mehrere südamerikanische Staaten aus und erzielte jährliche Renditen von bis zu 11 %.
1907 bekam das Unternehmen in der Millionenstadt Buenos Aires für fünfzig Jahre eine Konzession, um „die öffentlichen Straßen, Plätze, Brücken zur Erzeugung, Verteilung und zur Verkauf elektrischer Energie im Stadtgebiete“ zu benutzen. Zur Deckung des enorm wachsenden Strombedarfs von Buenos Aires wurden die Kapazitäten ständig erweitert, schließlich entstanden sechs thermische Kraftwerke. Mit dem Bau des größten Kohlekraftwerks, Dock Sud, wurde 1907 in Avellaneda, einem Industrievorort von Buenos Aires, begonnen. Um Baugrund zu gewinnen, wurden Tausende von Bohrpfählen ins Meer gesetzt. Im Geschäftsbericht des Jahres 1910 heißt es: „Die Zentrale Dock Sud in ihrem ersten Ausbau von 30000 KW wurde im Mai des Berichtsjahres dem Betrieb übergeben. Da die Zunahme der Anschlüsse und des Energieabsatzes in den letzten Jahren unsere Erwartungen erheblich übertroffen haben und ferner der voraussichtlichen Entwicklung in den nächsten Jahren Rechnung zu tragen ist, so haben wir uns schon jetzt zu einer Erweiterung dieser Zentrale um 27500 KW sowie der Unterstationen und des Kabelnetzes entschließen müssen.“
4. Polytechnischer Verein in Bayern
Greß hatte schon lange vor dem Angebot, Sekretär im Polytechnischen Verein zu werden, enge Kontakte dorthin. Der Verein hatte eine lange Vergangenheit, er war schon 1815 zur „Förderung des vaterländischen Kunst- und Gewerbefleißes“ geschaffen worden und setzte sich aus führenden Münchner Fabrikanten, Beamten, Professoren und Ingenieuren zusammen. Er sah sein Ziel darin, die Interessen von Industrie und Gewerbe zu vertreten und Industrieansiedlungen in der Stadt zu befördern, wozu gute Kontakte zu städtischen und staatlichen Stellen dienten. Bis zur Gründung des Patentamtes hatte er die Aufgabe, technische Gutachten zu erstellen und Patente zu beurteilen. Der Verein beteiligte sich an sämtlichen Industrie- und Gewerbeausstellungen, gab das „Bayerische Industrie- und Gewerbeblatt“ heraus und veranstaltete regelmäßige Vorträge und Veranstaltungen. 1938 wurde der Verein aufgelöst und in das „Amt für technische Wissenschaften in der Deutschen Arbeitsfront“ eingegliedert.
Der Ingenieur hinter dem Grossen Glas
Der Technikhistoriker Eugene Ferguson meint, die Ingenieurskunst sei ganz wesentlich nichtsprachliches Denken und entwickle sich vor dem inneren Auge. Der Ingenieur greife auf Einzelelemente in der Erinnerung zurück, verändere sie, füge sie neu zusammen und lasse so auf dem Papier Geräte entstehen, die es noch gar nicht gibt: „Entwurf und Erfindung liegen auf einem Kontinuum zwischen dem Offensichtlichen und dem Einfallsreichtum, zwischen einer Routine, die ein Minimum an Denkaufwand erfordert, und neuartigen, grundlegenden Erfindungen, die unsere Art, ein Problem anzugehen, für immer verändern.“ Wie erfinderisch war Greß? Er kann in der Lokomotivenfabrik damit beschäftigt gewesen sein, technische Modifikationen an den Standardmodellen vorzunehmen, die den Kundenwünschen gemäß zusammengestellt wurden, oder an der Neuentwicklung von Turbinen gearbeitet haben. Ferguson weist auf eine Gemeinsamkeit zwischen technischen und künstlerischen Zeichnungen hin: „Beide beginnen mit einer leeren Seite. Jeder will die Vision seines inneren Auges darauf übertragen.“ Und er fährt fort: „Die von einem Künstler bei der Gestaltung seines Bildes getroffenen Entscheidungen scheinen ganz willkürlich zu sein, werden aber durch das Ziel geleitet, dass ihre Visionen, Einsichten und Sinnfindungen schließlich anderen mitgeteilt werden sollen. … Wenn ein Ingenieur eine Zeichnung eines Gebildes – einer Maschine, eines Gebäudes oder eines Systems – anfertigen will, scheint ihm das fast gar keine Wahlmöglichkeit mehr zu lassen. Der technische Entwurf ist jedoch überraschend offen. Ein Ziel läßt sich auf sehr viele verschiedene Wege erreichen, von denen einige besser sind als andere, keiner jedoch in jeder Hinsicht der beste ist.“
J. A. Maffei: undatierte Konstruktionszeichnung, Blaupause.
J. A. Maffei: undatierte Konstruktionszeichnung, Transparentpapier
Greß und Duchamp waren Bildermacher, deren Selbstverständnis sich unterschiedlicher kaum denken lässt. Interesse für Technik hatte Duchamp schon vor München gezeigt, die technische Bildsprache jedoch von allen malerischen Attitüden zu befreien und auf ihren harten Kern zu reduzieren, das gelang ihm erst durch seine Münchner Erfahrungen. Sie wurden in einem Ideenlager abgespeichert, auf das er bei den Entwürfen und Vorstudien zum „Großen Glas“ zurückgreifen konnte. In den verschiedenen Vorstudien zum „Großen Glas“ bediente Duchamp sich immer wieder des Mediums der technischen Zeichnung. Befragt zur Technik der „Schokoladenreibe“ von 1913, erklärte er: „Ich konnte mich nicht dem wahllosen Zeichnen oder Malen, dem Verspritzen von Farbe überlassen; ich wollte auf eine völlig trockene Zeichnung zurückgehen, eine trockene Kunstauffassung. Und die technische Zeichnung war für mich die beste Form für diese trockene Form von Kunst.“
Davon gab es bei Greß genug zu sehen. Man kann davon ausgehen, dass es in der Wohnung Exemplare der populären „Illustrierten Technischen Wörterbücher“ aus dem Oldenbourg Verlag gab, vielleicht auch die Korrekturfahnen der letzten Bände. Im April 1911 war der Band „Eisenhüttenwesen“ mit 784 Seiten erschienen, beim folgenden zwölften Band („Wassertechnik, Lufttechnik, Kältetechnik“) hatte Greß als Leiter des Zeichensaals den Abbildungsteil verantwortet. Darin findet sich ein schier unermesslicher Kosmos an kleinteiligen Ansichten, Diagrammen und Schnitten von Gebläsen, Kränen, Kippmaschinen, Wasserrädern, Pumpen, Windkraftmaschinen, Riemenantrieben, hydraulischen Anlagen und Messinstrumenten, oftmals mit Pfeilen versehen, beschriftet in sechs Sprachen, darunter auch Französisch. Meist menschenleere Bilder einer zeittypischen Technikwelt in kaum mehr erfassbarer Ausdifferenzierung. In diesen Zeichnungen ist ein andauerndes Rotieren, Ziehen, Stoßen und Schieben zu beobachten. Was Duchamp hier in Hunderten von Varianten sehen konnte, war die Bildsprache der technischen Zeichnung, der entpersönlichten Ingenieurszeichnung, die keinerlei expressiven Wert besitzt und keine Persönlichkeit zum Vorschein bringen will. Duchamp, der das künstlerische Spiel mit Sprache bereits entdeckt hatte, bot sich auch im Textteil ein enormer Fundus an Anregungen. Seine Notizen in der „Grünen Schachtel“ enthalten etliche technische Begriffe, die sich auch in den Wörterbüchern wiederfinden: Dampfmaschine, Explosionsmotor, Windflügel, Kühler … Für die Sphäre der Junggesellen war eine „Dampfmaschine mit Fundament aus Mauerwerk“ vorgesehen.
Illustrierte Technische Wörterbücher, Band 5, München 1909
Illustrierte Technische Wörterbücher, Band 3, München 1908
Im Zusammenspiel von Kunst und dem Technik–Erlebnis lag das Geheimnis seines Aufenthalts. Der Bürgersohn Duchamp mag über das kleinbürgerliche und kunstferne Milieu, das er bei dem Maffei-Ingenieur und seiner Ehefrau erlebte, die Nase gerümpft haben, und tatsächlich hat er diesen Kontakt stets verleugnet, da er nicht zu seinem Image passte. Diese Umgebung, Beruf und Alltag von Ingenieur und Schneiderin hatten viel zu bieten, ganz zufällig und ganz unerwartet. War Greß also ein, vielleicht sogar der entscheidende „Inspirateur“ für Duchamps Münchner Periode? In dem Falle blieb Greß seinem Beruf treu: Der Ingenieur wirkt in einem ungeheuren Maße prägend auf seine Umgebung und doch bleibt er selbst ganz unsichtbar. So unsichtbar wie der Urheber der Ready-mades, die keine Handschrift mehr zeigen. Und nach dessen biografischen Spuren wir suchen.
Auf jeden Fall hatte Duchamp dort kaum andere Kontakte und verbrachte die viele Zeit in der allernächsten Nähe eines Ingenieurs und einer Schneiderin. Ihr Einfluss liegt auf der Hand, auch wenn er sich im Detail nicht belegen lässt. Gerade dass Motive aus der Welt der Technik und der Schneiderei gleichzeitig in seinen Horizont rücken, macht den besonderen Rang dieser inspirierenden Wohnung so plausibel. Pierre Cabanne meinte zu Duchamp: „Vom Anti-Artisten wurden Sie nun zum Pro-Ingenieur.“ Worauf dieser antwortete: „Ja …, aber zum Klein-Ingenieur.“ Einer ihrer stärkeren Belege ist die schon erwähnte Episode, die Fernand Léger vom gemeinsamen Besuch der Pariser Luftfahrt-Ausstellung, der „4e Exposition de la Locomotion Aérienne“ im Spätherbst 1912, erzählt: „Vor dem Weltkrieg ging ich mit Marcel Duchamp und Brancusi in eine Flugzeugausstellung. Marcel, der ein trockener Typ war und etwas Ungreifbares hatte, ging zwischen den Motoren und Propellern herum, ohne eine Wort zu sagen. Plötzlich wendet er sich an Brancusi: ‚Die Malerei ist zu Ende. Wer kann etwas besseres machen als diese Propeller? Du etwa?’“
Es spricht sehr viel dafür, dass August Greß den „missing link“ darstellt, dass also der enge Kontakt von Künstler und Ingenieur im Sommer 1912 nachhaltige Wirkungen entfaltete. Die Übernahme des Zeichenstils des Ingenieurs sollte viel stärker wirken als alle bisherigen Transfers aus kunstfernen Bereichen, mit denen Duchamp versucht hatte, die Malerei zu modernisieren: Chronofotografien, Röntgenaufnahmen und anatomisch-gynäkologische Darstellungen. Formal hatte sich der Kubismus als Sackgasse erwiesen. Zu Tomkins sagte er 1965: „Die technische Zeichnung war die Antwort – eine gerade Linie, statt von Hand mit einem Lineal gezeichnet, eine Linie, die von der Unpersönlichkeit des Lineals gelenkt wurde. Der junge Mann revoltierte gegen die altmodischen Werkzeuge und versuchte etwas beizutragen, das von den Vätern nie erdacht worden war. Wahrscheinlich sehr naiv meinerseits! Ich wurde nicht völlig frei von diesem Gefängnis der Tradition, aber ich versuchte es – bewusst. Ich verlernte zu zeichnen. Der springende Punkt war, meine Hand zu vergessen.“
(Rudolf Herz: „Marcel Duchamp – Le mystére de Munich“ ist im Verlag Horst Moser, München erschienen.)