Alexander Roob]
[August 2, 2016
Gustave Doré in the tradition of London – Reportage II: Dreadful Paris
Not translated:
3) Die Scheußlichkeiten von Paris
4) Praetorium
3) Die Scheußlichkeiten von Paris
Die Idee, Dantes Pilgerfahrt auf zeitgenössische urbane Verhältnisse umzumünzen, war allerdings so neu nicht. Dorés Londoner Inferno hatte seine Entsprechung in Honoré de Balzacs literarischem Monumentalopus La Comédie humaine, das die Hölle Dantes in Paris lokalisierte. Der französische Dichter stellte in seinem vielbändigen literarischen Gesellschaftskaleidoskop die Sphären der Pariser Sozialarchitektur als Höllenkreise und Stufen von Verworfenheit dar. Dabei gelang es ihm eine weitaus umfassendere und kritischere Analyse der ökonomischen und sozialen Verhältnisse seiner Zeit als seinem jüngerer Kollegen Charles Dickens.(1) Balzac verband seine literarischen Durchdringung der gesellschaftlichen Verhältnisse mit einem wissenschaftlichen Anspruch und so muß es wenig verwundern, dass sich Gesellschaftstheoretiker wie Karl Marx und Friedrich Engels eher von dem Werk des politische reaktionären Franzosen angesprochen fühlten als von den theatralen Romanen eines engagierten Sozialreformers wie Charles Dickens, dessen Charity-Initiativen sie außerdem als systemstabilisierend und kontraproduktiv wahrnahmen.
Seit den späten 1830er Jahren entwickelte sich das Bild der Metropole in der urbanen Sozialgrafik vor allem im Dialog mit den panoramaartigen Gesellschaftsdarstellungen und den karikaturesken Typologien dieser beiden Dichter Balzac und Dickens. In Frankreich warf Balzacs monumentales Werk seinen Schatten auf eine ganze Generation von Zeichnern. Grandville, dessen zoomorphe Karikaturserien die Konzeption der La Comédie humaine mit inspiriert hatten, zählte dazu, aber vor allem sozialrealistische Grafiker wie Charles Joseph Travies, Honoré Daumier und Paul Gavarni.(2) Letzterer prägte mit seinen sentimentalen Darstellungen von Londoner Slumbewohnern, die von 1848 bis 1851 in Illustrierten und Bucheditionen publiziert wurden, die Vorstellungen des Pariser Publikums von der Sozialmisere in England.(3)
Paul Smith ed.: Gavarni in London, London, 1849 (MePri-Coll.)
Paul Gavarni, in: L´Illustration, Paris 1851 Vol. I (MePri-Coll.)
Gustave Doré: La Ménagerie Parisienne, Paris 1854
Die Kunst des jungen Doré entwickelte sich in diesem von Balzac dominierten Illustrationsklima. In der Lithographiefolge La Ménagerie Parisienne versuchte er sich 1854 an einem Kaleidoskop der Pariser Gesellschaft, das den zoologischen Mustern der La Comédie humaine folgte. Auf Darstellungen von sozialem Elend verzichtete er dabei weitgehend. Im Jahr darauf holte er dies allerdings gründlich nach mit einer Serie von zwölf großformatigen Gemälden, die den Titel „Paris wie es ist” trug. In ihnen brachte er nach eigenem Bekunden „die Scheußlichkeiten von Paris” zur Darstellung, „mit all den alten Straßen, all den armen Schluckern und Ausgestoßenen.” Selbst ein libertinärer Kritiker wie Theophile Gautier hielt diese „stinkenden” Darstellungen „der aller erbärmlichsten Slums von Paris” für doch so „unanständig”, dass man sie schlichtweg nicht öffentlich präsentieren könne.(4) Besorgt stellte sich Gautier die Frage, was in aller Welt Doré damit zu tun gedenke. (5) Weitere Reaktionen aus Dorés nahem Umfeld auf diesen Miserablilismus im Monumentalformat hatten den dünnhäutigen und ängstlichen Doré dann anscheinend dermaßen verunsichert, daß er sich kurzer Hand entschloß, den kompletten Zyklus zu zerstören. Zweifel an der malerischen Durchführung können dabei wohl kaum ausschlaggebend gewesen sein. Gautier fand die Bilderreihe künstlerisch gelungen und auch ein Augenzeugenbericht des Journalisten Paul Lacroix belegt, daß sie als überzeugend wahrgenommen wurden: „Von den zwölf Bildern war eines grässlicher als das andere”, schrieb er. “Alle waren in ihrem Realismus widerwärtig im positiven Sinn.”(6)
Doré war ein großer Bewunderer von Gustave Courbet und die Vermutung liegt nahe, dass er mit diesen provozierenden Slumbildern dessen Realismus-Skandale zu übertrumpfen suchte. Auf der großen Salon-Ausstellung 1855 präsentierte er sich dem Pariser Publikum dann jedoch nicht mit schockierenden Genrebildern, sondern mit einer Schlachtenszene aus dem Krimkrieg. Das Monumentalgemälde La Bataille d’Alma unterstrich seine jüngsten Ambitionen, im zweiten Kaiserreich auch als Militärmaler zu reüssieren und es drängt sich in diesem Zusammenhang der Verdacht auf, daß er den sozialkritischen Zyklus „Paris wie es ist” auch aus der Welt geschafft hatte, um damit nicht seine angestrebte Karriere als Hofmaler des französischen Imperialismus zu torpedieren. Nur noch ein einziges Mal hat er sich danach mit sozialrealistischen Beschreibungen französischer Verhältnisse beschäftigt und zwar 1860 in den Illustrationen von Emile de Labédollières Stadtführer Le Nouveau Paris. Es handelte sich dabei allerdings um eher unverfängliche Schilderungen des großbürgerlichen Alltags. Die Faszinationskraft, die der pittoresken Miserabilismus auf ihn ausübte, blieb allerdings ungebrochen. Um sich nicht als Nestbeschmutzer zu kompromittieren, suchte er das pittoreske Elend allerdings jetzt nur noch im Ausland, zuerst in Spanien, und dann in England.
Gustave Doré, Beggars in the cloister of the cathedral of Barcelona, in: Gustave Doré / Charles d´Avellier, Spain, London 1881 (MePri-Coll.)
Dass Doré seinen Pariser Slum-Zyklus zerstört hatte wiegt umso schwerer, als sich daneben keine weiteren Darstellungen aus dem zweiten Kaiserreich erhalten haben, die die Lebensverhältnisse der unterbürgerlichen Schichten in Paris auf ähnlich drastische Weise zur Darstellung brachten, wie es in den Beschreibungen Londons der Fall war. Auch ein Paul Gavarni ging beispielsweise in seinen Beschreibungen des heimischen Elends kaum über den pittoresken Modus des Kaufruf-Genres hinaus.(7) Dass der Pauperismus auch auf dem Kontinent trotz des ökonomischen Aufschwungs in den fünfziger Jahren ein drängendes Problem war, das sich auch im Stadtbild offen zeigte, steht außer Frage. Die meisten Besucher Englands stimmten allerdings in der Einschätzung überein, dass die soziale Kluft dort besonders frappierend war.(8) Die Verelendung als Folge der fortgeschrittenen Industrialisierung bestimmte das Stadtbild Londons mehr als das jeder anderen europäischen Metropole. (9)
La Rue Delombre, in: L´Illustration 1855 Vol. I (MePri-Coll.)
Doré und Jerrold hatten ursprüngliche geplant, ihr London-Buch durch eine komplementäre Paris-Reportage zu ergänzen, aber auch dieses Vorhaben kam nicht zur Ausführung. Dabei wäre eine solche Gegenüberstellung besonders aufschlussreich gewesen, denn die beiden konkurrierenden Kapitale repräsentierten im 19. Jhd zwei antagonistische Modi der grafischen Beschreibung von Großstadt. Hier das Balzac´sche Tableau einer ausdifferenzierten Sozialarchitektur, das vornehmlich die bürgerlichen Schichten in Augenschein nahm und sich dabei auf eine psychologisierende Darstellung einzelner Standesvertreter konzentrierte, und dort die Dramatik des Tumultösen und der Vermassung, die aus einem Kraftfeld der biopolaren Mächte von Licht und Finsternis emanierte.
Mit diesem gespaltenen Gesicht präsentierte sich London 1851 während der ersten Weltausstellung der internationalen Öffentlichkeit. Die Lichtseite hatte sich in dem neu errichteten Kristallpalast materialisiert. Just zu diesem Zeitpunkt der größten Prachtentfaltung des britischen Imperiums rückte durch die Veröffentlichung von Henry Mayhews The London Labour and the London Poor auch die riesige Dimensionierung der finsteren Armuts-Seite in das Bewußtsein der Öffentlichkeit. Dorés Vorgänger Théodore Géricault und Paul Gavarni waren bei ihren London-Reportagen überwiegend an der Schilderung dieses dunklen Teils interessiert gewesen. In London. A Pilgrimage ging es jedoch nicht um einen weiteren Pauperismus-Rapport, sondern um eine Ausleuchtung der sozialen Kluft: West End versus East End, die Lichtwelt von High Life- London gegen die Finsterwelt versklavter Arbeit und aussichtsloser Armut. „Das ist London”, wird Doré von seinem englischen Begleiter Jerrold mit Blick auf das freizeitliche Treiben in den Parks zitiert, „das, und der East End.“(10) Auf diesen dramatischen Kontrapunkt war Dorés London-Drehbuch hin ausgerichtet, eine Konzeption, die dem systemisch-analytischen Plan von Jerrold diametral entgegen stand.
Dass der Elendskontinent des East End, auf den Dorés pittoreskes Sensorium konzentriert war, ein traditioneller Nährboden radikaler, egalistischer Ideologien war, liegt auf der Hand. Der englische Jakobinismus war hier beheimatet, ebenso die chartistische Arbeiterbewegung. Zur Zeit von Dorés Streifzügen wurde die Region gerade zur Drehscheibe des internationalen Anarchismus und Kommunismus.(11) Russische Revolutionäre wie Kropotkin, Trotzki, Lenin und Stalin verkehrten hier häufig. Dass die Illustrierung von Klassengegensätzen und versklavten Arbeitsbedingungen in London. A Pilgrimage in dem spannungsgeladenen Klima des zaristischen Russland auf ein besonderes Interesse gestossen sind, belegt die Tatsache, daß die einzige Übersetzung des Werks, die damals neben der englische und französische Fassung erschien, eine Russische war. Sie wurde 1882 in St. Petersburg publiziert.(12)
A Ball at the Mansion House, London: A Pilgrimage, London 1872 (MePri-Coll.)
Bluegate Fields, London: A Pilgrimage, London 1872 (MePri-Coll.)
4) Praetorium
London. A Pilgrimage zeichnet sich künstlerisch vor allem durch die brillante Choreographie der Massenszenen aus. Der Eindruck drängender Überfülle durchzieht sämtliche Kapitel und Drehorte des Buches und bringt damit auch den sprunghaften Anstieg der Londoner Population – sie hatte sich seit 1800 fast verdreifacht – zum Ausdruck. Diese Verdichtung von Population führte im Zusammenhang mit einer enormen Beschleunigung der Arbeits- und Lebensverhältnisse zu einer veränderten Wahrnehmung des urbanen Raums. Ein permanenter Ozean von Menschen überflutet in Dorés Grafiken die Zentren des Handels und der Freizeit und begräbt sie unter sich. Kataraktartig ergiessen sich die Massen durch die Strassen, schlagen an die Häuser an, formen sich zu Strudeln und schwappen bei der jährlichen Regatta in die Fluten der Themse über.
On the Downs, London: A Pilgrimage, London 1872 (MePri-Coll.)
Putney Bridge. The Return, London: A Pilgrimage, London 1872 (MePri-Coll.)
Diese Meisterschaft in der Organisation von Massenszenen zeichnete bereits den jungen Doré aus. Sein Cartoon-Opus Histoire de la Sainte Russie, mit dem er sich 1854 als einer ihrer grössten Innovatoren in die Geschichte der Comicstrip eingeschrieben hatte, bestandaus einer Vielzahl variationsreicher Wimmelbildern. Die grafischen Massenszenen des Historienzeichners Auguste Raffet hatten hier ebenso Pate gestanden wie die kindlichen Wimmelbilder des Punch-Zeichners Richard Doyle. Vor allem aber ließ er sich dabei von den Karikaturen George Cruikshanks inspirieren. Der Einfluss dieses Zeichners auf die künstlerische Entwicklung Dorés kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Cruikshank hatte als einer seiner wichtigsten Illustratoren einen wesentlichen Anteil an der Ausgestaltung des Charles Dickens-Universums.(13) Auf der Höhe seines Ruhms wurde er in den 1840er Jahren als legitimer Nachfolger von William Hogarth und James Gillray gefeiert. Cruikshanks grosses Verdienst war, dass er das Karikatur-Genre in die Bereiche der Fantasy, der Science Fiction und der Sozialdokumentation erweiterte und damit auch den vielfältigen Bezugsrahmen erschlossen hatte, in dem sich Dorés schillernde Kunst entfalten konnte.(14)
In vielen Zeichnungen Cruikshanks, vor allem in den Grafiken seiner Comic Almanacks, die von 1835 bis 1853 erschienen sind, spiegelt sich die Erfahrung eines zunehmenden Menschengedränges auf Londons Strassen. Nachbilder dieser Grafiken finden sich in etlichen Abbildungen von Dorés Londoner Pilgerfahrt. So ist beispielsweise die menschenvolle Slumszene Wentworth Street, Whitechapel einer Illustration Cruikshanks zu Dickens Sketches of Boz von 1836 nachgearbeitet. Und die beiden populären Strassenszenen A City Thoroughfare und Ludgate Hill, die den permanenten Verkehrsinfarkt auf Londons Hauptverkehrsadern zeigen, gehen auf eine Illustration Cruikshanks zu einer satirischen Erzählung Henry Mayhews zurück, in der die Absurditäten der Weltausstellung von 1851 aufs Korn genommen werden.(15)
George Cruikshank, Monmouth Street, in: Sketches by Boz (= Charles Dickens) , London 1836
Wentworth Street, Whitechapel, London: A Pilgrimage, London 1872 (MePri-Coll.)
George Cruikshank in: Henry Mayhew, 1851 or, The Adventures of Mr. and Mrs. Sandboys. London 1851 (MePri-Coll.)
A City Thoroughfare, London: A Pilgrimage, London 1872 (MePri-Coll.)
Cruikshank war in seiner Darstellung von Menschenmengen der Hogarth´schen Forderung nach variety, nach größtmöglicher Mannigfaltigkeit in der Charakterzeichnung verpflichtet gewesen. Bei Doré hingegen schien das Gegenteil der Fall. Oft zeigt sich erst bei näherem Hinsehen, dass er es trotz eines realistischen Anscheins geradezu auf eine Uniformierung seines Personals anlegte. Die Menschenströme in London. A Pilgrimage setzen sich aus einer extrem reduzierten Palette von Prototypen zusammen. Man hat in dieser Tendenz zur Schematisierung zumeist ein Indiz für seine fabrikmässige Produktionsweise gesehen. Im Fall dieser Großstadtreportage läßt sie sich allerdings mit gleichem Recht auch als ein künstlerisches Ausdrucksmittel zur Darstellung urbaner Entfremdung begreifen. Wie in Edgar Allan Poes berühmter Erzählung The Man of the Crowd (1840) stellt sich in Dorés urbanen Szenen das Abgründige erst in der Nahsicht heraus.(16) Bei Poe ist es der Archetyp einer der Verdammnis anheimgefallenen Rastlosigkeit, der sich beim Heranzoomen auf das Großstadtgewimmel offenbart. Bei Doré ist es das eigene Selbst, das sich im Antlitz der Vielen myriadenfach wie einem Spiegelkabinett bricht, gerinnt urbane Existenz zu einem klaustrophob-paranoiden Dauerzustand.
Am pointiertesten kommt diese frühexistenzialistische Rhetorik in der Darstellung eines Affengeheges im Londoner Zoo zum Ausdruck. Da sie thematisch wenig spektakulär scheint, hat sie in der Rezeption bislang kaum Beachtung gefunden. Dabei kommt hier in der schemenhaften Fassade aus gaffenden Zuschauern das Leitmotiv der Uniformierung auf geradezu gespenstische Weise zum Ausdruck. (17) In der Konfrontation der lichtdurchfluteten Besucherwelt mit der verschatteten Existenz der Primaten gelingt Doré auch ein beißender Kommentar zur Spaltung der viktorianischen Metropole in einen High Life-Part und ein Savage-London. In den sehnsuchtsvollen Blicken, die die vergnügungssüchtigen West Ender auf die dunkle Zone der Unzivilisiertheit werfen, spiegelt sich die libidinöse Konnotation der viktorianischen Slumming-und Charity-Praxis. Es ist anzunehmen, daß Doré damit ganz ähnlich wie Arthur Boyd Houghton in seinem zeitnahen Meisterwerk Graphic America auch die eigene voyeuristische Praxis aufs Korn nahm.
With the Beasts, London: A Pilgrimage, London 1872 (MePri-Coll.)
The Bulls Eye, London: A Pilgrimage, London 1872 (MePri-Coll.)
Bereits vor Abschluß seiner Arbeit an dem London-Porträt wurde Doré zum ersten Mal mit Vorbehalten an seinem Werk konfrontiert. „Es wurde ihm gesagt”, so erinnert sich Jerrold in seiner Doré-Biographie, „daß er die Charakterzüge der angelsächsischen Rasse nicht getroffen habe. Er habe sich dem wahren Typus englischer Männern und englischer Frauen nicht weiter angenähert als Gavarni. Das war ein schwerwiegender Schuldspruch.”(18) Die Kritiker legten ihre Finger dann auf einige grobe Ungereimtheiten, die in den topographischen Darstellungen auszumachen waren. In den Strassenzügen der London Pilgrimage tauchten beispielsweise pittoreske Wandlaternen auf, wie sie in England unbekannt waren; die Brücken waren mit normannischen Pfeilern versehen, in den Parkanlagen waren die Tuilerien zu erkennen und dergleichen mehr. Ging man davon, dass es sich bei dem Werk um eine Art illustrierter Stadtführer handelte, dann waren diese Vorwürfe nur zu berechtigt, denn sie warfen eine zentrale Frage auf: Wo war eigentlich der Ort von Dorés London?
Jerrold nahm für sich in Anspruch, dass er sein Äusserstes getan habe, um solche gravierenden topografischen Fehler zu verhindern. Dass sie dennoch unterlaufen sind, sei weniger der Hastigkeit der Produktion geschuldet, als vielmehr Dorés „Geringschätzung fürs Detail.” (19) Es darf allerdings bezweifelt werden, ob Doré hier überhaupt an einer definiten Ortsbestimmung gelegen war oder ob er nicht im Gegenteil ein Gefühl von Ortlosigkeit und Fremdheit vermitteln wollte. Im Verlauf der Arbeit an dem London-Buch hatte er selbst Zustände von Dislokation gleich mehrfach erfahren. Seine Wohngegend in Paris war von Bomben verheert und monatelang den preussischen Belagerern ausgesetzt gewesen. Während der darauffolgenden Erhebung der Pariser Kommune war er ins nahe Versailles geflüchtet. Und schließlich war sein Geburtsort Straßburg, der ihm immer ein sicherer Ort des Rückzugs gewesen war, dem neu gegründeten deutschen Reich einverleibt worden und damit tabu für ihn. Alle diese Ereignisse spielten in die Phase einer tiefen persönlichen Krise hinein, die er in einem gigantischen religiösen Programmbild zu fassen suchte, das für sich in Anspruch nehmen konnte das grösste Gemälde christlicher Ikonographie zu sein: Le Christ quittant le prétoire. Der momumentale Prospekt wurde 1868 zeitgleich mit den Arbeiten an der Pilgrimage begonnen und simultan realisiert.(20)
Gustave Doré, Le Christ quittant le prétoire, 1867-72 ( 600 x 900 cm) (Musée d Art moderne et contemporain, Strasbourg)
Der Ort des Praetoriums bezeichnet in der Passionsgeschichte das Stadium der Verurteilung und damit die Passage zwischen leiblicher Existenz und der Erlösung am Kreuz. Als eben einen solchen Ort des Übergangs und der Prüfung inszenierte Doré den Raum von London. A Pilgrimage, indem er die ortsspezifische Vorlagen weitestgehend, wie Jerrold sich ausdrückt, „generalisierte”, um sie so in religiöse Emblemata zu überführen. Vincent Van Gogh, der kurz nach der Herausgabe der Pilgrimage zwei Jahre lang in London lebte, erkannte in Dorés metaphysischem Sozialrealismus eine Kunst, die seinen eigenen pietistischen Überzeugungen entsprach. Eine Tafel der Pilgrimage, Scripture reader in a Night Refuge, hatte es ihm dabei besonders angetan. In der erhabenen Figur des Laienpredigers, der den Obdachlosen im Nachtasyl aus der Bibel rezitiert, sah er sein Ideal viriler, karitativer Tätigkeit verkörpert. (21) Wie Puppen vor der Entlarvung liegen hier die Armen in ihren Schlafkisten aufgebahrt.
Scripture reader in a Night Refuge, London: A Pilgrimage, London 1872 (MePri-Coll.)
Eine weitere Abbildung beeindruckte Van Gogh derart, dass er eine kolorierte Kopie davon angefertigte. Es handelt sich um die Gefängnishof-Szene in Newgate, die innerhalb der Abfolge der Pilgrimage als Einstieg in den Höllenkreis des East End fungiert. Doré knüpfte in dieser düsteren Darstellung, die den Hofgang der Gefangenen zum Sinnbild der Ausweglosigkeit der irdischen Existenz erhebt, an einen Topos der christlichen Mystik vom Aufstieg der Seelen an. In der oberen Hälfte des tunnelgleichen Hofs kann man sie in der Gestalt zweier Falter ausmachen, die sich aus dem tunnelgleichen Hof erheben.
Newgate – Exercise Yard, in: Doré / Jerrold:. London: A Pilgrimage. London, 1872 (MePri-Coll.)
Wie kein anderer Künstler der Zeit verstand es Doré, den paralytischen Aspekt des Pauperismus ins Bild zu setzen. Legionen von Obdachlosen bevölkern die Szenerien des Buchs. Man sieht sie regungslos in den Ecken stehen, unter Brücken hocken und zusammengekauert unter dem Londoner Nachthimmel liegen. Mit der Darstellung einer Gruppe, die auf der London Bridge die Nacht verbringt, wird auch das finale Kapitel über die London Charities eröffnet. Diese pastorale Nachtszene unter nächtlichem Sternenhimmel, die eine Epiphanie der göttlichen Barmherzigkeit vorstellen soll, bildete das Herzstück von Dorés visueller Erlösungsrhetorik. In der Entwurfszeichnung hatte er den Schlafenden noch einen Schutzengel hinzugesellt, der aus der Endfassung allerdings getilgt und in eine darunter liegenden Vignette platziert wurde. Doré realsierte mehrere Fassungen dieses Motivs, ein Gemälde, so wie eine Folge von Radierungen.
London Charity, London: A Pilgrimage, London 1872 (MePri-Coll.)
Gustave Doré, Outcasts. London Bridge, in: Blanchard Jerrold: Life of Gustave Doré. London 1891 (MePri-Coll.)
Charity war das Zauberwort, mit dem man in der Pauperismus-Literatur bereits seit Beginn des Jahrhunderts utilitaristische Doktrinen zu neutralisieren und den sozialen Sprengstoff der Massenverelendung ideologisch zu entschärfen suchte. (22) Das Königreich waren überaus stolz auf die Errungenschaften seines Sozialsystems und auf die Hilfsleistungen, die vornehmlich auf Privatinitiativen und Benefizveranstaltungen gründeten. Douglas Jerrold brachte in seinem Kommentar das Paradoxe von Charity-Initiativen pointiert zum Ausdruck durch die Bemerkung, daß „die Unterstützung der grossen Masse verbunden ist mit den Vergnügungen (…) der Reichen”.(23) Sie deckt sich mit einer Kritik, die Karl Marx und Friedrich Engels in den vierziger Jahren geäußert hatten, in der sie die sozialpolitische Irrelevanz und den verdeckten Hedonismus des Charity-Wesens gegeißelt hatten: „Die Wohltätigkeit bietet vielmehr nur den äußern Anlaß, den Vorwand (…) zu einer Art von Unterhaltung, die ebensogut jede andre Materie zu ihrem Inhalt machen könnte. Das Elend wird mit Bewußtsein ausgebeutet, um dem Wohltäter (…) Befriedigung der Neugierde, Abenteuer, Verkleidungen, Genuß der eigenen Vortrefflichkeit, Nervenerschütterung und dergleichen zu verschaffen (…). Die zahlreichen wohltätigen Donquichotterien in England, die Konzerte, Bälle, Schauspiele, Essen für Arme (..) haben keinen anderen Sinn. In dieser Weise wäre also auch die Wohltätigkeit längst als Unterhaltung organisiert.”(24) In der Konzeption der Pilgrimage spielte der Verweis auf das karitative Engagement und die Kraft der Empathie eine entscheidende Rolle. Er sollte den ausgeleuchteten gesellschaftlichen Bruch versöhnen und die angestimmte soziale Dissonanz harmonisieren. Mit einer solchen pastoralen Auflösung konnte sich das Opus der scharfen Klassengegensätze unauffällig im Genre der viktorianischen Erbauungsliteratur positionieren und unaufgeregt in den Salons des West End als Coffee table book goutiert werden.
Refuge- Applying for Admittance, London: A Pilgrimage, London 1872 (MePri-Coll.)
Anmerkungen:
1) Dickens war in den Konzeptionen seiner späten Romane von Balzac beeinflußt.
2) “Der wahre Ruhm und die wirkliche Mission Gavarnis und Daumiers bestanden darin, Balzac zu ergänzen, der dies sehr wohl wußte, und sie als seine Helfer und Kommentatoren schätzte.” Charles Baudelaire: Sämtliche Werke Bd. 1, München 1977, S.325
3) Gavarnis sozialkritischen London- Grafiken wurden in mehreren Folgen in der französischen Illustrierten L´ Illustration abgedruckt. In England erschienen sie 1849 in einer von Albert Smith edierten moderateren Version unter dem Titel Gavarni in London in Buchform.
4) zitiert nach Roosevelt S. 168
5) Roosevelt s. 169
6) Roosevelt S. 169
7) Siehe dazu: Weisberg, Gabriel: Social Concern and the Worker: French Prints From 1830-1910. Utah 1973
8) Hierzu: Hippolyte Taine: Taine´s notes on England. (1860 -79) Ausgabe London 1957. S. 29
9) In Paris wurden die alten Stadtquartieren im Zuge der Haussmannisierung unter Napoleon III ab 1853 systematisch beseitigt und die Armut an die Banlieus delegiert.
10) LP S. 87
11) Peter Ackroyd bezeichnet den Londoner East End als „eine Wiege des Weltkommunismus.“ (London. Die Biographie. Ausgabe München 2000. S. 674 ff.)
12) Die russische Version wurde wesentlich gekürzt und mit einem Text von A.Vatsin unter dem Titel: London-zamietki i Vpechatlieniia veröffentlicht. (Angaben nach Dan Malan, S. 127 , 281)
13) Es gibt wenig Grund an Cruikshanks Behauptung zu zweifeln, dass er den Plot von „Oliver Twist“ zu grossen Teilen mit konzipiert habe.
14) Jerrold, Blanchard: The Life of George Cruikshank. In Two Epochs. London 1882
15) Henry Mayhew: 1851 or, The Adventures of Mr. and Mrs. Sandboys. London 1851.
16) Poe hat sich dabei offensichtlich vor allem von einigen Motiven inspirieren lassen, die Dickens in seinen Sketches of Boz entwickelt hat. ( Siehe: The American face of Edgar Allan Poe, Shawn Rosenheim, Stephen Rachman. Baltimore 1975. S. 71 ff.)
17) Der Zeichner Arthur Boyd Houghton kommt in seiner Reportage Graphic America interessanterweise zur gleichen Zeit zu ganz ähnlichen Resultaten.
18) Jerrold, Doré Bio. S. 204
19) Jerrold, Doré Bio. S. 204
20) Das Gemälde, 609 x 914 cm groß, befindet sich heute in restauriertem Zustand im Musée d’Art Moderne et Contemporain de Strasbourg.
21) In einem Brief an seinen Künstlerfreund Anthon van Rappard, in dem Van Gogh über die Bedeutung von Dickens für die englische Sozialgrafik referiert, verweist er auf seine Vorliebe für diese Grafik und verteidigt die Kunst Dorés gegen die Vorwürfe des Illustrativen. „The other day I saw the whole of Doré’s work on London — I say, that’s splendidly beautiful and noble in sentiment — for example in the room in the night refuge for beggarswhich you have, I believe, and otherwise can still get. (…)when those who with their two hands can’t do a tenth of what Doré can do with one finger rail against his work, that’s nothing but arrogance, and they’d be well advised to be silent and to learn to draw better themselves.“ Vincent van Gogh an Anthon van Rappard, den Haag, 19. 9.1882 (Letter 267, https://vangoghletters.org)
22) Bereits J.T. Smith´ Pauperismusreport Vagabondiana; or, Anecdotes of Mendicant Wanderers through the Streets of London; with Portraits of the Most Remarkable, Drawn from the Life (London, 1817) endet mit einer Hymne auf die harmonsierende Kraft der Charity.
23) Jerrold S. 185
24) Karl Marx / Friedrich Engels: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. (1845) Ausgabe Frankfurt 1967. S. 206