„Travel and travelers are two things I loathe–and yet here I am, all set to tell the story of my expeditions. (…) Anthropology is a profession in which adventure plays no part; merely one of its bondages, it represents no more than a dead weight of weeks or months wasted en route; hours spent in idleness when one’s informant has given one the slip; hunger, exhaustion, illness as like as not; and those thousand and one routine duties which eat up most of our days to no purpose and reduce our ‘perilous existence’ in the virgin forest to a simulacrum of military service…” Claude Lévi-Strauss, Tristes tropiques (1955)
Bei der Vorbereitung meines Projekts habe ich mich oft an die vor allem im Umfeld der westlichen Anthropologie geführten Diskussionen um die Perspektive der Forschenden erinnert gefühlt. Obwohl ich nicht mit dem Anspruch aufbrechen wollte, mich wie ein wissenschaftlich forschender Anthropologe zu verhalten, fielen mir doch viele Parallelen gerade der Anthropologie – als einer Disziplin, deren Wissenschaftscharakter lange umstritten war, was deren früheste Exponenten wie Malinowski zu pessimistischen und auch abschätzigen Bewertungen der von ihnen aufgesuchten Kulturen führte – mit demjenigen Segment künstlerischer Methodik auf, in dem ich mich gerade bewegte: der „künstlerischen Forschung“. Der von Lévi-Strauss kritisierte Anthropologe möchte Minderheiten besuchen, die noch im Urwald leben. Entdeckungen zu machen, ist dabei ein notwendiger Prozess. Das Reisen zur Gewinnung einer zusätzlichen empirischen Dimension fällt mir nicht so schwer wie den „klassischen“ Anthropologen ihre viel längeren, weiteren und entbehrungsreicheren Exkursionen. Nun war es für mich nicht so schwer, mich an die für meine Forschung relevanten Orte zu begeben wie es damals schwer gewesen sein muss, in den Regenwald zu fahren. Bahn und sonstige Verkehrsmittel, Unterbringung und alle sonstigen Einrichtungen waren prinzipiell vorhanden, wenn auch nicht alle Ziele ohne Umstände zu erreichen waren. Ich konnte bei meiner Reportage mit einem „kulturierten“ Kontext rechnen. Sie fand in einer gemäßigten Klimazone statt, unter meist günstigen Umständen.
Nach langen Phasen des beobachtenden Zeichnens in meinen früheren Projekten konfrontierte ich mich dieses Mal selbst mit dem Anspruch, bei der Recherche auch andere Medien und Methoden zu nutzen. Und ich ging mit bestimmten Prämissen ans Werk. Über die („seßhafte“, prinzipiell von irgendwoher am Computer zu tätigende) Recherche im Netz, in Netzwerken und Bibliotheken, in Büchern und Filmen hinaus wollte ich mein Thema, das Arbeiten mit dem Stein, durch Reisen an die jeweils spezifisch sinnvoll erscheinenden Orte noch wesentlich erweitern. Meine Hypothese klang dabei anfangs tatsächlich eher wie der schlichte Leitsatz, man solle über nichts reden, was man nicht schon selbst erlebt habe.
Mir ging es, wie ich merkte, gar nicht um eine besondere Authentizität – die ja selbst dann, wenn man sie erlebt, im Nachhinein extrem schwer wieder zu vermitteln ist, ein Effekt, den man als die Rhetorik des Authentizismus beschreiben kann. Vielmehr ging es mir um eine „Gegenprobe“ zum durch Lektüren vermeintlich schon Gewussten. Auch die Gegenprobe, davon ging ich aus, würde nicht zu zweifelsfreien Ergebnissen führen können. Im Arbeiten mit Regeln, meinem Mich-Abarbeiten am Stein als einem sich verschließenden, sich entziehenden Material, wollte ich einige Verfahrensregeln nicht nur aufstellen, sondern auch, wenn nötig, in mehrmaligen Anläufen, also mit einem „längeren Atem“, in Angriff nehmen und mich nicht mit einfachen Antworten zufrieden geben.
DAS SOLNHOFENER MATERIAL
„Im Winter steht die Arbeit still; so wie es auftaut und das Gewitter sich verliert, zieht das fleißige Volk den Berg hinan in seine Steinhütten, die in der Mitte des Bruches den sonderbarsten Anblick eines Steindorfes im eigentlichsten Verstande bildet. Jede Familie hat hier eine auch zwei geräumige Hütten von trocken aufeinander geschichteten Schiefersteinen erbaut und mit Schiefer gedeckt, darin der Herd ohne Rauchfang und die zum Verkauf bestimmte Ware sich befinden. Der Mann arbeitet im Bruch, das Weib und die Kinder schleifen die Steine. Mittags versammelt sich alles in den Hütten zur frugalen Mahlzeit, die meistens vom Dorf heraufgebracht wird; oder man geht in das Wirtshaus, das in der Mitte des Bruches vor nicht langer Zeit erbaut wurde. Abends zieht die Schar wieder ins Dorf zurück.“ (Bericht aus dem Bayern-Journal über die Arbeit eines Steinbrechers, 1800)11
Ich richtete meine Basis in Nürnberg ein und plante, jeden Tag von dort aus zur Recherche nach Solnhofen zu fahren und abends wieder zurückzukehren. Gleich bei meiner Ankunft am Solnhofener Bahnhof traf ich unvermittelt auf einen großen Kalksandstein-Bestand – die mit Moos überwucherten Felsstelen der örtlichen Gedenkstätte für die Gefallenen der beiden Weltkriege.
Bei den ersten Recherchen in Solnhofen bewegte ich mich vor allem in den Hügeln oberhalb der Stadt in der Nähe eines Nadelgehölzes, eines so genannten „Kulturwalds“, der regelmäßig kahlgeschlagen und wieder aufgeforstet wird. Die Gemeinde Solnhofen ist nicht reich, vermittelt aber eine friedliche, ruhige Atmosphäre. Dorthin gebracht hatte mich ein Moment reiner Neugier: Wie viel von dem raren Gestein gibt es in Deutschland noch? Aus meinen in Berlin gemachten Recherchen wusste ich schon, dass der Großteil des Solnhofener Gesteins für gewöhnliche Fußböden und eben keineswegs für Lithografieplatten verwendet wird.
Bevor ich mich in den Steinbruch aufmachte, wollte ich etwas gegen meinen Hunger unternehmen. Die Plastikdinosaurier vor dem örtlichen Heimatmuseum hatten mir Appetit gemacht. Auf der nach einem Schauer regennassen Straße in Solnhofen traf ich einen Feuerwehrmann aus der nahe gelegenen Wache und fragte ihn nach einem Restaurant. „Was willst du denn essen? Viel Auswahl haben wir ja hier nicht!“ Nach kurzem Nachdenken deutete er auf die andere Seite des Flusses und meinte: „Da ist ein Familienhotel, die haben auch ein Restaurant.“
Forelle im Salzmantel
Ich war dankbar für den Tipp und ging gleich hinüber. In dem finsteren Wirtshaussaal begegnete ich der Wirtin, die mich gleich nach meinen Wünschen fragte. Eine Speisekarte gab es allerdings nicht – sondern nur zwei Gerichte zur Auswahl: Spätzle mit Gemüse oder gebratene Forelle, mit dampfen- den Kartoffeln auf einem heißen Teller serviert. Ich entschied mich für letzteres, weil ich hoffte, der Fisch könne frisch aus der Gegend sein – und gewann so unerwarteter Weise einen ersten Einstieg ins Reich der Minerale: Der Fisch war mit einer Methode zubereitet, die ich nicht kannte – „im Salzmantel“. Vorsichtig versuchte ich die groben Kristalle weg zu picken, die den Fisch bedeckten – vergebens, er kam mir vollkommen versalzen vor! Ich stellte Theorien darüber auf, dass dies wohl helfen könne, den Bierkonsum in der Wirtschaft anzuregen – insgesamt aber tat es mir um den schönen Fisch Leid. Eine weitere Kalkstein-Begegnung hatte ich nach dem Essen, als ich am Straßenrand eine überlebens- große Statue von Alois Senefelder (1771–1834), dem Begründer der Lithografie (1796), stehen sah. Die Verwendung dieser brüchigen Steinsorte für eine Skulptur konnte nur durch die lokale Verbindung zwischen Lithografie und Kalkstein begründet sein. Ansonsten wurde mein erster Aufstieg vom Kläffen zweier aggressiver Hunde begleitet, die mich vom Hof des letzten Hauses am Ortsausgang her gewittert hatten.
Etienne Hippolyte Maindron, Senefelder-Denkmal in Solnhofen, 1845
Beim ersten Besuch im recht weit außerhalb der Kleinstadt liegenden Steinbruch von Solnhofen lernte ich gleich den Kosovo-Albaner Bajram kennen. Nachdem sein Dorf im Krieg zerstört war, war er nach Deutschland gegangen, um Geld für seine im Kosovo zurückgebliebene Familie zu verdienen. Als ich ihn im Steinbruch traf, war er schon seit fünfzehn Jahren dort – seine Familie, Frau und fünf Kinder, war inzwischen nachgezogen.
Für meinen ersten Gang zum Steinbruch wählte ich (eigentlich ungünstiger Weise) einen Samstag aus, und Bajram und seine Frau waren die einzigen, die am Wochenende noch im Steinbruch standen – „Freiwillig!“, wie er mir gleich versicherte. Die meisten Steinbrecher kommen heute aus der Türkei, die Arbeit wird kaum mehr von Deutschen ausgeübt. Auf dem Steinbruch können sie nach Bajrams Auskunft sehr frei arbeiten und verdienen relativ gut.
Unser erstes Gespräch begann vielversprechend.
„Das ist mein Grund hier, schau dich in aller Ruhe um!“
Es hatte gerade geregnet, die Niederschläge hatten den Boden rund um den Steinbruch tief werden lassen, man watete mühsam wie durch ein Zementbad – nur auf dem Kalksandsteinboden war die Feuchtigkeit vom Gestein bereits aufgesogen.
Gleich nach der knappen Begrüßung fragte mich Bajram:
„Wie hast Du eigentlich hierher gefunden?“
„Ich habe mir die Satellitenbilder auf Google angeschaut und mich damit einfach auf den Weg ge- macht.“
„Hast du die kleinen Wege genommen, oder die Landstraße? Na, du hast ja eine ganz schöne Strecke hinter dir, wenn du von Solnhofen hier heraufgekommen bist. Ungefähr eine Stunde, oder?“
„Ja, ungefähr. Die Schleichwege kenne ich nicht, ich komme über die breiteren Landstraßen.“
„Wenn Du später wieder runterwillst, kann ich Dich im Auto mitnehmen. Wie lange willst du denn hier oben bleiben?“
„Bis wann bist du denn normalerweise hier?“
„Kommt drauf an. Wie gesagt, wir sind freiwillig hier! Aber wenn das Wetter gut bleibt … können wir heute bis sieben bleiben.“
„Vielleicht gehe ich ein bisschen früher – ich will heute noch nach Nürnberg zurück. Kann ich hier noch ein bisschen herumlaufen und Fotos machen?“
„Kein Problem. Bis zum nächsten Zelt da drüben reicht mein Gebiet – so weit kannst du alles fotografieren!“
Er deutete auf ein mit gestreifter Plastikfolie verkleidetes Steingebäude.
„Wohnst du in Nürnberg?“
„Nein, in Berlin.“
„Und was machst du da? Studieren?“
„Ja, ich studiere Kunst.“
„Woher kommst du?“
„Aus China.“
„Und warum kommst du aus China ausgerechnet hierher?“
„Wegen der Solnhofener Platten, die sind da, wo ich herkomme, sehr bekannt!“
„Ah ja, klar…!“
Steinbruch Solnhofen 2014
„Kann ich von dir ein paar von den Steinen kaufen?“
„Wie viele brauchst du denn? Wenn du nur ein bisschen von dem Bruch haben willst – bedien’ dich!“ Ich schaute mir die Ecke an, in die er gezeigt hatte. Später ging er zum Bagger zurück und brachte mir einen besonderen Bruchstein mit. „Solche verkaufen wir manchmal.“ Die Platte, die er mir zeigte, wies einen deutlich gezeichneten Ammoniteneinschluss auf. „Sammelst du solche Fossilien?“
„Manchmal, aber du siehst ja, wie es hier aussieht – wir haben einfach zu viel davon. Wir finden oft Muschelformen, manchmal auch Fische.“
Um das Gespräch in Gang zu halten, hielt ich ihm etwas hin, von dem ich schon wusste, dass es sich um einen Dendriten handelte: „Was ist das? Sieht ja eher pflanzlich aus.“
„Ein Dendrit – sagt dir der Ausdruck etwas?“
„Nicht genau. Woraus ist denn diese Zeichnung auf dem Stein?“
„Woraus genau das besteht, weiß ich auch nicht, aber das dürfte aus Mangan oder Eisen sein.“
Aus dem Abfallhaufen zog ich eine ungefähr 30 x 30 cm große Platte – die mir schon sehr schwer erschien. Ich fragte ihn nach dem Preis.
„Was willst du denn damit?“
„Ich will versuchen, das als Lithografieplatte zu benutzen.“
„Was ist Lithografie?“
„Eine Drucktechnik, mit der man Kunst machen kann.“
„Ah ja. … Nimm’s einfach mit!“
Ich dankte ihm, bevor ich ging und sagte: „Bis bald wieder!“
Das war, wie sich herausstellte, gar nicht so selbstverständlich, denn auf dem Rückweg verirrte ich mich und brauchte deswegen ganze zwei Stunden zurück nach Solnhofen – mit dem geschenkten Stein im Gepäck. Ein stabilisierendes wie Kommunikationen eröffnendes Element wurde später wieder das Zeichnen. Zeichnung als eine „anthropologische“ Methode gestattet es dem Zeichnenden, aus seiner vor Ort gewonnenen Vorstellung ein „Medium“, ein zwischen ihm und seinem Objekt stehendes Mittelding zu schaffen, das den Eindruck ansprechbar, diskutierbar, rekonstruierbar macht – im Gegensatz zu einer Methode wie etwa den Tonband- oder Filmaufnahmen bestimmter Populationen, die Töne und Bilder (erst in der aufzeichnenden Apparatur, dann im Archiv) verschwinden lassen.
Bei den Arbeitern im Steinbruch bedarf es besonderer Augen und Kenntnisse, um geeignete Steine zu finden. Ihre Tätigkeit setzt ein ähnliches Gespür für Stein und Steine voraus wie es auch Geologen und Steinliebhaber entwickeln. Es gibt auch mechanische, tatsächlich so genannte „Steinsammler“, Maschinen, die mit dem Trecker über de Felder gelenkt werden, damit sie Nutzböden verbessern helfen, indem sie alles Gestein oberhalb einer bestimmten Größe und eines bestimmten Gewichts aussortieren. Diese einfach strukturierten Sammler zu betrachten, vermittelt eine lebendige Vorstellung von der Qualifikation, die die Arbeiter im Solnhofener Steinbruch mitbringen müssen: Sie legen segmentweise Bruchstellen frei, in denen sie auf die dünnen Schichten aus brüchigem Kalkstein treffen, und dann müssen sie entscheiden, wo sie mit ihren Abbauwerkzeugen so ansetzen können, dass möglichst große, durchgängig glatte Platten aus der Wand gelöst werden können.
Steinbruch Solnhofen 2014
THE MAKING OF STEIN
26. – 28. Januar 2014, Fa. Stiegler, Fa. Friedl, Solnhofen
Meinen nächsten Besuch in Solnhofen, nach der ersten Orientierung, plante ich einige Wochen später. Bajram traf ich zwar an, aber er hatte sich fast schon in seine Winterpause zurückgezogen, um die Werkzeuge instand zu halten. Mein nächster Anlaufpunkt war darum das Museum, das solche saisonalen Einschränkungen nicht besitzt. Außerdem traf ich im Ort – beim Fegen der Straße vor seinem Haus – einen anderen Gesprächspartner namens Gerhard Weis, der sich als Angestellter bei der größten der ortsansässigen Firmen, Stiegler, vorstellte. Nach unserem Gespräch lud er mich ein, ihn in seiner Fabrik zu besuchen.
Dieser Einladung folgte ich gleich am zweiten Tag meines Aufenthalts. Ich traf Herrn Weis, und er führt mich auf dem Firmengelände herum. Er zeigte mir die Werkhallen, vor allem die riesige Maschinenhalle mit der Steinsäge. Wir konnten uns bei deren Lärm nur schreiend unterhalten, alle um uns herum, außer mir, trugen Gehörschutz. Bei all dem Sägestaub überall wunderte ich mich zu sehen, dass keiner der Arbeiter Mundschutz trug. Auf meine Frage, ob das nicht gefährlich sei, antwortete er jovial: „I wo, das ist nicht so gefährlich, das ist doch nur Kalk! Schließlich bestehen unsere Knochen auch aus Kalk – das ist Natur!“ Zum Abschied gab er mir zwei Kalksteine mit Fossilien, einer mit einem Belemniten, der andere mit einem Ammoniten, beide mit polierter Oberfläche. Mit Bleistift schrieb er mir die lateinischen Namen der Fossilien auf den Stein.
Steinsammler
Als ich ihn fragte, ob ich auf dem Firmengelände zeichnen dürfe, wurde er etwas unsicher und meinte, da müsse ich auf jeden Fall die Sekretärin des Chefs Herrn Stiegler nach einer Genehmigung fragen. Ich sollte nicht weit kommen, denn die Sekretärin beäugte mich misstrauisch und verwehrte mir den Zutritt zur Firma. Ich fragte sie vorsichtig, ob ich in der Firma zeichnen dürfe, worauf sie mich hilflos anschaute und dann den Chef fragen ging. Nach einer Weile kam sie zurück und sagte: „Der Chef sagt, das geht nicht. Du kannst nicht hierbleiben.“ Also musste ich an diesem Tag unverrichteter Dinge nach Nürnberg zurückfahren.
Am dritten Tag bemühte ich mich erneut um eine Genehmigung zum Zeichnen auf dem Firmengelände. Dieses Mal wurde die Sekretärin ungemütlich und drohte, die Polizei zu holen, wenn ich noch einmal wiederkäme. Also beschloss ich, noch einmal in den Steinbruch zu gehen, vielleicht würde ich dort einen neuen Ansatz zum Weiterarbeiten finden.
Von Ferne schon sah ich, dass Rauch aus dem Schornstein der Hütte kam, die ich schon vom letzten Besuch her kannte. Statt des abwesenden Bajram traf ich dort dieses Mal einen türkischen Steinbrecher mit seinem Sohn an. Der Junge, Mehmet, erzählte mir, dass er den Offroad-Park Langenaltheim am benachbarten Steinbruch gerne zum Motocross-Fahren nutze. Mehmet sprach viel besser Deutsch als sein Vater:
„Ich mag die Kosovo-Albaner nicht. In der Schule haben wir immer heftige Schlägereien mit denen. Das sind alles Diebe!“
„Kennt dein Vater Bajram?“
„Ja, den kennen wir schon, aber sprechen tun eigentlich kaum miteinander.“
Der Vater reagierte nicht auf diese Beschuldigungen, sondern bot mir netterweise eine Tasse Kaffee an. Mehmet war zwar erst sechzehn Jahre alt, wollte aber schon den Führerschein machen. Den Steinbruch seiner Vaters habe er schon lange als Übungsplatz benutzt. Das Motorradfahren gehe ihm langsam auf die Nerven. Sein Traumauto? Ein Audi. Warum? Sein Bruder arbeitet in der Autofabrik in Ingolstadt.
„Woher kommst du eigentlich?“
„Aus Berlin.“
„Da war ich noch nie. Aber mein Bruder. Einmal. Er meinte, Berlin ist sehr groß.“
Er fragte mich weiter aus, woher in China ich denn komme, aus einer großen Stadt?
„Kommst du etwa jeden Tag aus Berlin hierher nach Solnhofen?“
„Nein, aus Nürnberg.“
„Aah, das ist doch total langweilig da. Dann lieber Ingolstadt, das ist wenigstens ein bisschen moderner. Oder München.“
Ob er denn schon einen Job habe? „Mein Vater arbeitet sehr viel – auch im Winter. In guten Monaten verdient er schon mal 10000 €…“ Er sei das dritte Kind der Familie, auf die Schule habe er keine Lust, hier draußen gäbe es viel Spannenderes zu erleben. Er mache gerade eine Lehre bei Stiegler, der Firma seines Vaters. Die Firma drossele manchmal die Produktion, aber sein Vater arbeite immer weiter. Er überließ es meiner Fantasie, mir andere Wege der Distribution der Steinplatten auszudenken, die sein Vater in solchen Phasen kultiviert.
Ich fragte ihn dann auch, ob ich dort zeichnen dürfe. „Ja klar!“ Erst vor kurzem sei ein Kamerateam des Bayrischen Rundfunks gekommen, um einen Dokumentar lm über den Steinbruch zu drehen. Erst habe man sich mit denen einigermaßen gut verstanden, aber als sie wieder abgezogen seien, hätten sie überall ihre Abfälle liegen lassen, und zack! hätten sie hier draußen die Mäuse am Hals gehabt.
„Okay, dann komme ich im Frühjahr wieder“.
Dieses Treffen brachte ziemlich viel Gerede und wenig Information – ein gutes Beispiel für die Umwege und Irrwege, die unvermeidlich und sogar konstitutiv sind, wenn man sich auf eine methodisch offene künstlerische Recherche einlässt. Bis dahin hatte ich nur einige Orientierungsfotos und Ideenskizzen, aber noch keine einzige Zeichnung vor Ort gemacht. Ich hatte keinen Zugang zu den Orten erhalten, die mich ursprünglich wirklich interessiert hatten. Dafür hatte ich einen Sinn für die Umgebung und für einige der dort wichtigen Probleme gewinnen können. Ohne das, was auch mir in Solnhofen zuerst wie eine große Zeitverschwendung erschien, wäre meine Recherche auch irgendwie verlaufen. Aber erst indem ich mich einer wissenschaftstypischen Zielstrebigkeit eher zu enthalten und den Dingen ihren Lauf zu lassen versuchte, stellten sich Assoziationsketten ein, die mir für mein methodisches Vorgehen so wichtig erscheinen.
Meine erste Reise im Frühjahr sollte mich dann allerdings erst einmal nicht wieder nach Solnhofen, sondern nach Schweden führen. Ausgehend von den Fossilien, die ich in Süddeutschland gesehen hatte und die mich wegen ihrer ungeheuer detaillierten Erscheinungsweise durch bis zu 150 Millionen Jahre hindurch als eine natürliche Form der Zeichnung beeindruckten, beschloss ich, zunächst einer anderen Spur nachzugehen. In Schweden hatte ich die Gelegenheit, weit mehr als zuvor einen Eindruck von der Tiefe der historischen Schichtung meines Studienobjekts, des Steins, zu erfahren. Ich würde aber auch versuchen, einen Eindruck von der Lebensweise von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu erhalten, die ihr ganzes Leben in direktem Kontakt mit Steinen verbringen. Der Umweg über Schweden gab meiner Forschung keine neue Richtung, aber sie gewann mit jedem Tag an Umrissschärfe.
Xiaopeng Zho, Notizbuch, 2014
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FÜR DIE STEINE SPRECHEN
2. November 2013, Steinbruch Solnhofen
Paläontologisches Institut, Universität Uppsala, Schweden 1. – 14. April 2014
DL, eine Paläontologin
Bei dieser Station meines Projekts knüpfte ich an den alten freundschaftlichen Kontakt zu einer ehemaligen Mitschülerin an, mit der ich in China gemeinsam die Grund- und Mittelschule besucht habe und die zurzeit in Stockholm studiert. Über sie kam ich in Kontakt mit einer weiteren Mitschülerin aus der Grundschule, die ich allerdings bis dahin nicht kannte. Sie studiert Paläontologie in Uppsala und arbeitet im Rang einer wissenschaftlichen Assistentin an der dortigen Universität. Ich beschloss, sie zu kontaktieren, weil ich mich eingehender mit dem beschäftigen wollte, was mir in den Steinen (und den Steinsammlungen) in Solnhofen immer wieder begegnet war: Fossilien. Das wollte ich durch Begegnungen und Gespräche mit Wissenschaftler/innen erreichen, ich wollte deren Arbeit mit den steinernen Untersuchungsobjekten durch Zeichnen kennenlernen – besser gesagt, durch mein Zeichnen ihres Zeichnens. Den Ausgangspunkt für dieses im Verlauf von zwei Wochen realisierte Teilprojekt bildete also die einfache Frage, wie mit Steinen in der naturwissenschaftlichen Forschung umgegangen wird, im Unterschied etwa zu den Steinfabriken von Solnhofen.
Das Spezialgebiet meiner chinesischen Bekannten, die anonym bleiben will und die ich darum hier nur „DL“ nennen werde, ist die evolutionäre Phase im Übergang zwischen Meer- und Landlebewesen, zwischen Fisch und Vierbeiner, genauer zwischen Amphibien und spezialisierten Landtieren – ein Gebiet, bei dem sie fast ausschließlich mit fossilen Funden arbeitet, der primären Erkenntnisquelle aller Paläontologen. Aber ich erhoffte mir von der Begegnung noch mehr. Vor meinem Flug nach Schweden hatte ich ein Buch von Bruno Latour gelesen, „Die Hoffnung der Pandora“ (12) ,in dem sich der Autor mit der historisch gewachsenen und heute aus komplizierten Gründen aufrecht erhaltenen Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften auseinandersetzt. Sein Plädoyer für eine „Wiedervereinigung“ der wissenschaftlichen Kulturen steht in engem Zusammenhang mit seinen (auch empirischen) Forschungen zur Entwicklung des Labors und der in diesem praktizierten Untersuchungsformen. Latour hat die für meine Auseinandersetzung mit dem Stein reizvolle Begriffskonstruktion des „faitiche“ erfunden, einer Hybridform des wissenschaftlichen Denkens und Handelns, wie er es versteht, zwischen „Faktum“ (fait) und „Fetisch“ (fétiche). Mein Interesse richtete sich auf die sichtbaren, aber auch die unsichtbaren Momente der Konvergenz dieser beiden Wissensformen.
Xiaopeng Zhou, Uppsala Universitet Evolutionsbiologiskt Centrum
Mit DL führte ich von Anfang an intensive Gespräche. Dabei bestätigte sich zunächst scheinbar Latours These von der Getrenntheit der Diskurse. Es galt zuerst, ihr gegenüber meinen Status zu klären. Wir redeten frei miteinander. Manchmal war sie allerdings sehr irritiert, weil ich es wagte, aus einer Perspektive, die sie nur als die eines Laien sehen konnte, Kritik an ihrer Wissenschaft zu üben – und auch noch sehr grundlegende Kritik, erkenntnistheoretische, wissenspolitische, sprachbezogene Kritik. Insgesamt war es nicht ganz leicht, im Umgang mit ihr die richtige Stufe der Höflichkeit zu finden. Das mag mit ihrem Status als Inhaberin eines naturwissenschaftlichen Abschlusses zu tun haben, mit der sie quasi-instinktiv wie aus einer höheren Klassenposition zu mir sprach, ohne damit „böse Absichten“ zu verbinden. Unser fast gleiches Alter, der gleiche kulturelle “Hintergrund“, die gleiche Sprache, all das hätte unsere Kommunikation erleichtern können: aber eigentlich konnte man eher von „zwei Welten“ sprechen. Hinzu kam die Umgebung, in der unsere (chinesisch geführten) Gespräche stattfanden: Sie sprach mit ihren Kollegen Englisch, das ich nicht so gut wie sie beherrsche. Jedenfalls dauerte es lange, bis dieses Verständigungsproblem benannt war, die unterschiedlichen akademischen/ nicht-akademischen Denkstile prägten allerdings auch weiterhin unseren Austausch. Ich notierte mir jedenfalls dieses „Höflichkeitsproblem“ als möglicherweise symptomatisches für den Stand des Dialogs zwischen Wissenschaft und Kunst.
Bei meinen Zeichensitzungen in den Computer-Zeichenstudios der Paläontologen kam es zu Beginn zu den erwarteten leichten Irritationen. Meine Anwesenheit führte unweigerlich zu der Frage: „Was machst du hier?“ Eigentlich hätte ich sofort ausrufen wollen: „Na ich zeichne, wie ihr auch!“ Aber das reichte natürlich nicht, niemand dort verstand sich als Künstler, und so erklärte ich mein künstlerisches Interesse, in einer brauchbaren Kurzfassung – was dazu führte, dass ich ab dann sehr freundlich behandelt wurde und als Beobachter weitgehend ungehindert agieren konnte. Meine Position zeigt sich auch in den entstandenen Zeichnungen: leicht schräg zur Blickrichtung der Zeichnenden, in einigem Abstand, doch mit der Möglichkeit, auch detaillierte Blicke auf deren Bildschirme zu erhaschen.
Xiaopeng Zhou, Uppsala Universitet Evolutionsbiologiskt Centrum
Xiaopeng Zhou, Uppsala Universitet Evolutionsbiologiskt Centrum
In den Gesprächen, nicht nur mit DL, sondern auch mit den anderen Wissenschaftlern, fiel mir bald auf, dass sie sich als Menschen verstehen, die mit ihrer Arbeit in einem engen Kontakt zur „Natur“ stehen. „Natur“, in den Unterhaltungen als umgangssprachlicher Begriff natürlich anders zu bewerten als in einem wissenschaftlichen Aufsatz wie dem von Latour, nimmt, nicht nur als Forschungsgegenstand, sondern auch als Lebensstil einen enormen Stellenwert in der Weltsicht der Wissenschaftler ein. Das begann bei den Ernährungsgewohnheiten, die ständig in den Gesprächen thematisiert wurden – „Reis muss transportiert werden und hat deswegen eine schlechte CO2-Bilanz!” – und endete nicht selten bei romantisierenden Vorstellungen wie der, als winziges, unbedeutendes Einzelwesen vor der alles überragenden Natur zu agieren.
Zur Zeit meines Aufenthalts hatten die Forscher allerdings mit ganz greifbaren Problemen zu kämpfen: Vor einem Monat war in ihr Computerstudio eingebrochen worden, Computer, Bildschirme und Tablets wurden gestohlen. Deswegen konnten sie zunächst nicht weiterarbeiten, was die Stimmung negativ beeinflusste. Gesprächsweise kam es zu Aussagen wie der, dort in der Nähe des Polarkreises könne man die aurora borealis („Nordlichter“) beobachten, das sei momentan das einzige, was ihnen bleibe… Ein polnischer Kollege, ein Genwissenschaftler, meinte: „Bei uns in Uppsala ist die Luftverschmutzung schon sehr weit fortgeschritten – ich kann die Sterne schon nicht mehr so gut beobachten!“
Mit der Zeit, in der ich die Wissenschaftler/innen um DL besser kennenlernte, zeigte sich die viel- leicht romantisch grundierte Vereinzelung auch im sozialen Verhalten: Jede/r arbeitete – natürlich nach einem institutionellen Masterplan – konzentriert und mit großem Einsatz an seinem/ihrem Teilbereich. Generell ließ sich außerdem deutlich eine Aufspaltung der Paläontolog/innen in „Geolog/ innen“ und „Biolog/innen“ beobachten.
Aber mein erster Eindruck war: Die Bilder von Steinen und fossilen Formen, die ich da auf den Bild- schirmen sah – die sahen eigentlich genau wie Taihu-Steine (???) aus! Das war eine von meinem Interesse gefärbte Assoziation, sicher, aber für mich auf genau dieser emotionalen Ebene auch die er- ho te Bestätigung, dass ich mich am richtigen Ort befand. Außerdem war ich froh, dass DL eigentlich sehr nett war und vor allem extrem konzentriert antwortete.
XZ „Deine Forschungstätigkeit gilt seit einiger Zeit den Placodermen…“
DL „Es gibt sehr wenige umfangreichere wissenschaftliche Untersuchungen über fossile Fischfunde. Da gibt es sehr viel Arbeit zu tun. Unser Institut arbeitet mit einem weiteren empirischen Fokus als die meisten anderen. Normalerweise gehen wir nach Südfrankreich und scannen dort die Fossilien. Aber – warum fragst Du mich eigentlich immer über die Placodermen aus?
XZ „Ich hab das doch erst von Dir gehört – und das liegt natürlich daran, dass ich andere noch weniger kennen. Als ich Kind war, habe ich solche Fische und andere Fossilien auf Abbildungen in der Kinder-Enzyklopädie kennengelernt…“
DL „In den letzten Jahren sind die Placodermen sehr populär geworden, aber wir sind zurzeit an anderen Fischarten interessiert. In ein paar Monaten will ich über diese neue Richtung einen Artikel in der Zeitschrift ‚Nature’ publizieren. Aber vor der offiziellen Präsentation müssen wir da sehr vorsichtig sein!“
Unser Gespräch, obwohl es meistens äußerst ernst geführt wurde und keinen Raum für Ironie bot, hatte durchaus auch seine komischen Momente. Einer davon ist hier vielleicht besonders erwähnenswert, wenn auch ein bisschen schwerer zu erläutern. Das aus drei Schriftzeichen zusammengesetzte chinesische Wort für Moderne endet mit einem Partikel, der identisch mit dem Schriftzeichen für „Sexualität“ ist – ohne es zu wollen, sprachen wir also bei der wissenschaftskritischen Auseinandersetzung über ihr Forschungsgebiet immer wieder über „kopulierende Placodermen“, und zwar in einer Weise, die unterstellt, die Paarung geschehe genau wie bei Menschen.
Mit DL habe ich mich viel über Anthropozentrismus unterhalten. Ich las ihr die bekannte Stelle bei Nietzsche vor:
„Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschentums sich vor dem Tiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt.”13 Wir konnten uns darüber verständigen, dass die Naturgeschichte vom Menschen – und nur vom Menschen – geschrieben ist.
Xiaopeng Zhou, Uppsala Universitet Evolutionsbiologiskt Centrum
Xiaopeng Zhou, Uppsala Universitet Evolutionsbiologiskt Centrum
Xiaopeng Zhou, Uppsala Universitet Evolutionsbiologiskt Centrum
SEHMASCHINEN
DL verstand die Paläontologie in unserem Gespräch als Extremform einer historischen Wissenschaft. Die Archäologie sei etwas Anderes. Sie, DL, analysiere nur die Fossilien, mit den Ausgrabungen habe sie selbst nichts zu tun. Letztlich sei es die Paläontologie, die Thesen und Interpretationen produziere, die Zusammenhänge herstelle und Geschichtsmodelle aktualisiere. In Schweden gebe es immer weniger gute, „brauchbare“, das heißt neue Erkenntnisse bringende Fossilien, in China, Nordamerika oder Argentinien dagegen gebe es immer wieder interessante, neuartige Fossilien zu entdecken. Die dortigen Wissenschaftlerinnen arbeiten ihrer Meinung nach nicht unter so guten Bedingungen wie sie, weswegen sie ihnen sehr oft ihre Fossilproben nach Uppsala schicken. Sie meinte stolz, es gebe sehr wenige Paläontologen wie sie oder ihren Chef, Prof. A., die so viel Geduld hätten. Viele Projekte kosteten viel Geld und führten dann doch zu keinen wichtigen Publikationen – ihre schon!
Im Sommer waren sie zum Scannen in Frankreich. Es gibt dort einen großen Scanner, für allgemeine Nutzungen, eigentlich nicht für Fossilien. Warum in Frankreich? Dort gebe es optimale Lichtbedingungen, auch jenseits der apparativen Vorgänge. Ich fühlte mich an die Wahl der Impressionisten erinnert, die für ihre Pleinair-Malerei ebenfalls diese Landschaft wählten. Von dem Großscanner zeigte sie mir ein kleines Video, das sie dort selbst gemacht hatte. Normalerweise, sagte sie, müssten sie den ganzen Tag da bleiben und jedes kleinste Stück jeweils ca. zwanzig Minuten scannen. Weil sich die Maschine stark erhitzt, wurde eine dicke Stahltür zwischen Scan- und Bildschirmraum eingebaut, denn es kann zu hohen, sogar lebensgefährlich hohen Strahlungswerten kommen. Die aufgewendete Energie ist so riesig, dass beim Scannen großer Fossilien manchmal das Scan-Objekt angekohlt wird. Prof. A. hat gesagt, wenn er bestimmte beantragte Mittel bekomme, werde sie zusammen mit den Franzosen den Aufbau der Anlage optimieren. Dann, so sagt sie, wäre es ein weltweit einzigartiges Instrument. Bei dem Scanner in seiner jetzigen Form handelt es sich bereits um ein sehr aufwändiges so genanntes Confocal Laser Scanning Microscope. Weil der Unterhalt und die Instandhaltung der Maschine sehr viel Geld kosten, muss sie immer mit mehreren Personen rund um die Uhr in Betrieb gehalten werden, um rentabel zu sein und – um abbezahlt werden zu können. Man kann sagen, dass es sich um eine sehr langweilige und einfache Arbeit handelt – das ist kaum von Fließbandarbeit zu unterscheiden. Tagaus, tagein hat man nur den Bildschirm zu beobachten, auf Fehlermeldungen zu achten, und darauf, dass die Fossilien nicht verwechselt werden, wobei ein minuziöses Archivierungssystem hilft. Wie Fließbandarbeit. Während des Scanvorgangs verharrt man angespannt neben dem Monitor. Erst wenn der jeweilige Scanvorgang beendet ist, kann man aufatmen.
Mich hat beeindruckt, welch simple Abläufe einen großen und nicht unbedeutenden Teil einer solchen Spitzenforschung ausmachen. Bei dem, was ich sehen konnte, handelte es sich natürlich um so etwas wie die Zulieferer-Industrie der Wissenschaft. Was davon nach außen dringt, so DL, unterliegt ständiger Vereinfachung und nochmaliger Vereinfachung. Mit komplexen Entscheidungsgängen und Forschungsprämissen, die schon daran ablesbar seien, dass ihre Aufgabe auch darin bestehe, neue Scans ständig mit alten Aufzeichnungen und Bildmaterialien zu vergleichen, könne man nicht nur nicht an die „Öffentlichkeit“ durchdringen – man könne noch nicht einmal in der unmittelbaren technokratischen Peripherie des Wissenschaftsbetriebs Fundraising betreiben, von dem neue Stellen und neue Maschinen vollständig abhängig seien. DL verteidigte dagegen, bei aller Unschärfe, populärwissenschaftliche Darstellungen ihrer Arbeit – sie und ihr Professor hätten gelegentlich auch als Berater an Dreharbeiten für populäre Dokumentationen mitgearbeitet. Sie selbst habe schließlich ihre Faszinati- on als Kind mit Fernsehfilmen auf dem Discovery Channel genährt.
Während wir über solche Filme, zum Beispiel über die Verfilmung des Bestsellers des Biologen Jared Diamond, „Guns, Germs and Steel“, 14 sprachen, stellte ich mir die lange Reise vor, die sie von diesen frühen ersten Begegnungen unternommen hatte, wie sich aus dem Gesehenen und Gelernten Prämissen und Schlussfolgerungen gebildet hatten, sich in der Auseinandersetzung mit dem konkurrenzbetonten Klima im internationalen Wissenschaftsbetrieb ihr spezialisierter Fokus entwickelt hatte. Sie hatte sich, vielleicht ohne es im Einzelnen zu bemerken, in eine Spezialistensprache eingelebt. Aber immerhin hatte sie die sicher nicht gewöhnliche Offenheit, mit mir diese Gespräche zu führen und mir einen wichtigen Teil der Arbeitsgänge mit den Steinen zugänglich zu machen.
Zu einer weiteren Entdeckung kam es in Uppsala mit Hilfe der Archivkenntnisse einiger Mitarbeiter – Objekte aus den Sammlungen, die mir DL auf ihrem Computer zeigte, unter dem Vorbehalt, es handle sich um Objekte, die noch keiner Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden seien. Sie wies mich damit auf ihre eigene Institutionsgeschichte hin, indem sie mir über Abbildungen in einem Lagerraum gestapelte Bestände zugänglich machte: Fossilien, die ziemlich genau vor hundert Jahren aus China dorthin gekommen waren. Das einfache Faktum, vermutlich wichtiges historisches Forschungs- material aus China hier in Schweden in Kisten verpackt zu finden, war schon überraschend genug.
Notizbuch, 2014
Bei näherer Betrachtung ausgepackter Stücke auf den Fotografen fiel darüber hinaus der Blick unmittelbar auf Reste der Kolonialzeit: das offenbar aus China stammende Verpackungsmaterial bestand zum Teil aus Tabaks- und Zigarettendosen, die in ihrer marktschreierischen Buntheit und durch ihre Ikonografie aus der exotistischen Konsumwelt des Westens sofort zwischen den Steinen und Fossilien hervorstachen.
Diesen Moment konnte ich in gewisser Weise mit den Wissenschaftlern teilen. Aber mir wurde auch meine auf verschiedenen Ebenen „spezielle“ Perspektive klar: Diesen spezifischen Stellenwert konnten die peripheren Verpackungsgegenstände vielleicht nur aus meiner eigenen künstlerischen Sichtweise gewinnen. Darüber hinaus spielte vielleicht auch meine chinesische Herkunft noch eine Rolle. Denn mich interessierten die Tabakdosen auch wegen des kulturhistorischen „Hin und Her“, wegen des Wechselspiels von Export, Import, Re-Import, das sie zu verkörpern oder zu symbolisieren schienen. Sie verdeutlichten mir als periphere Begleitumstände eines aus Kolonialzeiten stammenden „trade (engl. für Handel, aber auch neutraler für Austausch) in stones“, was die Auseinandersetzung, die Arbeit mit dem Stein an künstlerischem und wissenschaftlichem Potenzial barg. Hier zeigte sich, über die Dimension der „reinen“ natur- oder kulturwissenschaftlichen Eliteforschung hinaus, eine eigene Perspektive auf wissenschaftliche (aber eben nie nur wissenschaftliche) Objekte.
Es handelte sich um einen Spezialfall, einen „Fund“, den mir DL erst nach langen, anfangs durchaus etwas ziellos kreisenden Gesprächen zeigte. Die „lange Weile“, die man als künstlerisch Forschen- der vielleicht eher aufzubringen bereit ist, hat sich an dieser Stelle bewährt. Die Wissenschaftler, die aufgrund ihrer akademischen Allgemeinbildung ganz sicher wussten, warum das „interessant“ ist – konnten sie in ihrem Forschungsalltag solche „peripheren“ Phänomene berücksichtigen, die sich nur mit persönlichem, oft rational nicht zu rechtfertigendem Zeitaufwand gewinnen ließen? Oder anders gefragt: Konnten sie es sich eigentlich leisten – wie konnten sie es sich leisten, auf diese Methoden des Erkenntnisgewinns zu verzichten? Welche Rolle können sie in der „Gesamterkenntnis“ der Wissenschaftler spielen?
Es entstand bei mir die Vorstellung, dass mein Auftauchen dort vielleicht in die Reihe jener „Vorzeichen“ gehören, die in der Außenperspektive eine Ent-Spezialisierung und „Öffnung“ der Naturwissenschaften ankündigen – ein Vorgang, der allerdings genauer betrachtet schon seit langem in vielen Bereichen der Wissenschaft stattfindet und der nur dadurch heute nochmals der Rede wert wird, weil er die zuvor ebenfalls isoliert verstandene Welt der ästhetisch-künstlerischen Produktion einbezieht.
In einem Gespräch mit einem anderen chinesischen Wissenschaftler, den ich in Uppsala traf, betonte dieser, wie sehr (wie alle anderen Wissenschaften) auch die Paläontologie von politischen Entscheidungen, von der Finanzierung von Programmen, der Konservierung von Objektbeständen abhängig sei; eine von vielen Begegnungen und Beobachtungen auf meinen Reisen, die mir den Eindruck vermittelt haben, dass sich in vielen Bereichen ähnliche kontextuelle Denkweisen durchsetzen – jeden- falls dort, wo eine erkenntnisorientierte gegenüber einer profitorientierten Produktionsweise überhaupt noch Platz findet.
Anmerkungen
11. Zit. n. Emil Meier, Die alten Mörnsheimer Steinbrüche. Ein Bildband, Solnhofen 2014, S. 21.
12. Bruno Latour, Die Ho nung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenscha , übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt am Main 2002.
13. Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1873/74), hg. und mit einem Nachwort von Michael Landmann, Basel 1984, S. 8–9.
14. Jared Diamond, Germs, Guns and Steel, abru ar unter: https://youtu.be/ojU31yHDqiM; zuletzt abgerufen am 21.12.2014, nach dem gleichnamigen Buch „Germs, Guns and Steel. e Fates of Human Societies“ (1997); dt. „Arm und Reich – Die Schicksale menschlicher Gesellscha en, Frankfurt am Main 1999.