Horst Moser]
[April 1, 2007
Heinrich Ehmsen: künstlerischer Zeuge der Münchner Revolutionstage
Meine Beschäftigung mit Heinrich Ehmsen begann Ende der siebziger Jahre während des Studiums an der Akademie der Bildenden Künste in München. In einer Arbeitsgruppe, die das Ziel hatte, die Bildproduktion während der Münchner Räterepublik zu erforschen, übernahm ich die Recherche zum Thema Reportagezeichnungen. Sehr schnell kristallisierte sich Ehmsen als der wichtigste Künstler heraus, der mit zeichnerischen und malerischen Mitteln die Ereignisse von 1918/19 darstellte.
Von sehr großem Nutzen für Hintergrund-Informationen war der rege Kontakt mit Lis Bertram-Ehmsen, der Lebensgefährtin des Malers. In Ost-Berlin konnte ich 1979 im Atelier Ehmsens viele unveröffentlichte Bilder und Zeichnungen fotografieren. Von einigen (z. T. verschollenen) Werken existieren nur noch Werkverzeichnis-Karteikarten mit briefmarkengroßen, oft unscharfen Reproduktionen. Die meisten davon sind unveröffentlicht. Einige dieser Reproduktionen habe ich in meiner kunstgeschichtlichen Abschlussarbeit von 1979 („Die Erschießungsbilder Heinrich Ehmsens“) gezeigt. Eine kurze Darstellung des Themas findet sich auch in dem Buch “München 1919”, das die Ergebnisse unserer studentischen Arbeitsgruppe zusammenfasst.
Da Ehmsen nur wenigen bekannt ist, zunächst ein paar biografische Daten: Geboren am 9. August 1886 in Kiel, von 1901 bis 1906 Lehre als Dekorationsmaler, von 1906 bis 1909 an der Kunstgewerbeschule in Düsseldorf. Von 1909 bis 1910 war Heinrich Ehmsen in Paris. Dort lernte er Picasso, Braque, Matisse und andere Maler kennen. Ab 1911 als freischaffender Maler in München. Er hatte engen Kontakt zu den Malern des „Blauen Reiter“, was auch in den frühen Arbeiten zu spüren ist. Von 1914 bis 1918 Soldat in Frankreich und Rumänien. Insgesamt stand Ehmsen während des 1. Weltkriegs fünfzig Monate an der Front. Die Revolution und die Räterepublik von 1918/19 und deren Zerschlagung hat Ehmsen in München miterlebt. 1920 Einzelausstellung in München. 1929 Umzug von München nach Berlin. Ab 1928 Beteiligung an den Ausstellungen der „Novembergruppe“ in Berlin. 1932 neunmonatige Reise durch die UdSSR. 1933 Ausstellungsverbot und Entfernung seiner Bilder aus fünfzehn deutschen Museen. 1945 Berufung an die Hochschule für Bildende Künste in Berlin (Charlottenburg). 1949 Unterzeichnung des “Pariser Friedensmanifestes”, was zu seiner Entlassung von der Hochschule (West) führt. 1950 Berufung an die Deutsche Akademie der Künste zu Berlin (Ost). Am 6. Mai 1964 in Berlin gestorben.
Heinrich Ehmsen hat ca. zwanzig Gemälde und etwa hundert Zeichnungen bzw. Grafiken geschaffen, die mit der Münchner Revolution von 1918/19 in Zusammenhang stehen. Ein Teil dieser Arbeiten ist übermalt oder verschollen. Nimmt man die Intensität und Produktivität als Maßstab, so kann man annehmen, dass kein anderes Thema Ehmsen so sehr beschäftigt hat wie die Ereignisse in München 1919. Über seine damalige Situation schreibt er: “Fanatischer Arbeit in München entriß mich 1914 der Krieg und brachte mich in den Morast von Flandern, in die blutgetränkten Schützengräben an der Somme und nach Verdun. // Damals begann ich ein Kämpfer gegen den Krieg und für den Frieden zu werden. // Heimgekehrt ins Atelier in München, nach dem Irrsinn des Massenmordens nun umtobt vom Geknatter und Getöse des Bürgerkrieges, schien mir alle Arbeit im Atelier aus früheren Zeiten belanglos, nichtig. Verdrängte Eindrücke der Jugend, die Jahre von Kasernenhof und Schlachtfeld, das Erlebnis der Erschießung von Revolutionären bedrängten mich, zwangen mich, sie zu gestalten. L’art pour l’art ist nicht meine Sache. Ich muß durch Form und Farbe hinausschreien, was in mir tobt. // Mitleid mit der geschundenen Kreatur, Zorn gegen die Peiniger.”
Heinrich Ehmsen, Exekutionsszenen, München 1919 (Bleistiftzeichnungen und Radierung)
1918 kam es zum Aufstand der Kieler Matrosen, nachdem “zur Ehrenrettung des Kaisers” Einsatzbefehle erteilt wurden, die Selbstmordkommandos gleichkamen. Diese Meutereien bildeten den Auftakt zur deutschen Revolution. Getragen von der Spontaneität der hungernden, kriegsmüden Massen, griff die Bewegung schnell auf norddeutsche Küstenstädte über und breitete sich über das gesamte Reich aus. Überall konstituierten sich Arbeiter- und Soldatenräte, die die Kontrolle über die alten Gewalten übernahmen, die widerstandslos kapitulierten.
In München gab es, nach dem Ende der Wittelsbacher Monarchie, innerhalb kurzer Zeit verschiedene Phasen des Rätesystems. Zunächst eine humanistisch-sozialistische “Schriftstellerrepublik” mit dem Ministerpräsidenten Kurt Eisner an der Spitze. Nach dem Attentat an Eisner, der auf offener Straße von dem monarchistisch gesinnten Graf Arco erschossen wurde, radikalisierte sich die Rätebewegung bis zur Endstufe der sozialistisch-kommunistischen Variante, nach dem Vorbild Russlands. Die Gegner der Revolution, das Militär und das konservative Bürgertum formierten sich zum Gegenschlag. Angeführt von rechts stehenden Weltkriegsgeneralen marschierten „die Weißen“ in München ein. In der Folge kam es zu heftigen Gefechten und zu Exekutionen.
Die Revolution forderte in München zehn Menschenleben. Es handelte sich um Angehörige und Sympathisanten der germanisch-antisemitischen „Thule-Gesellschaft“, die als Geiseln erschossen wurden. Sie hatten in einem Nebengebäude des Hotels „Vier Jahreszeiten“ ein Spionage- und Werbebüro und verbreiteten Flugblätter gegen das Räteregime, vor allem aber versorgten sie kampfwillige Bürger der Stadt mit Geld und gefälschten Ausweisen, damit sie München verlassen und zu den südbayerischen Sammelstellen der Freikorps gelangen konnten. Die „Thule-Gesellschaft“ war wesentlich an der Gründung der später in NSdAP umbenannten Deutschen Arbeiterpartei beteiligt. Der als „Geiselmord“ in die Geschichte eingegangene Vorfall bildete die Basis für erfundene Greuelgeschichten, die wiederum als Legitimation für das brutale Morden der „Weißen“ dienten. Die „Befreiung“ Münchens durch die „Weißen“ Truppen kostete Hunderte von Menschen das Leben (laut Ludwig Morenz 588 Tote, Bernt Engelmann spricht von 1200).
Im Jahr 1933 schrieb der Gründer der Thule-Gesellschaft Rudolf von Sebottendorff: „Jetzt kann endlich gesagt werden (…), daß jene Thule-Leute nicht als Geiseln starben (…). Sie starben für das Hakenkreuz, sie fielen Juda zum Opfer (…).“ Im Herbst 1919 hieß es in einer Denkschrift der Polizeidirektion München: „Richtig ist: abgesehen von der Erschießung der Geiseln ist es in der Zeit der Räteregierung zu Mordtaten, zu Brandstiftungen, zu Vergewaltigungen von Frauen, zu großen Lebensmittelgeschäftsplünderungen und zur allgemeinen Enteignung von Privatbesitz n i c h t gekommen. Auch die unsinnigen Gerüchte über Kommunisierung der Frauen waren falsch und darum schädlich.“ Veröffentlicht wurde dieses Ergebnis amtlicher Untersuchungen allerdings nicht.
Ernst Toller hat sich 1919 energisch von dem Geiselmord distanziert und als einer der führenden Köpfe der Räteregierung die restlichen Gefangenen freigelassen. Er schreibt später: „Die deutsche Öffentlichkeit verbindet mit dem Begriff ‚Bayerische Räterepublik’ die Vorstellung furchtbarer Greuel- und Bluttaten, die ihren Gipfel im ‚Geiselmord’ fanden. Es wissen nur wenige, daß das Blut- und Greuelregiment, wie so oft, logificatio post festum, Sinngebung von nachhinein ist, nicht zuletzt, um die Taten der Weißen zu rechtfertigen (…).“
Heinrich Ehmsen schreibt: „Auf dem Kasernenhof der sogenannten Leiber, des Bayrischen Leibregiments, in der Theresienstraße ratterten die Maschinengewehre die Revolutionäre an der Mauer zu Tode. Das Erlebnis malte und zeichnete ich aus Empörung mit Besessenheit. Es dauerte Jahre, bis ich mir all das Erleben mit meiner Arbeit von der Seele gewälzt hatte.“ In nahezu allen Erschießungsbildern Heinrich Ehmsens sieht man von oben auf die Szene herab. Möglicherweise konnte er von seinem Atelier aus, das sich 1919 in der Theresienstraße befand, die Greueltaten der Weißen Truppen beobachten.
Das Strafvollstreckungsgefängnis Stadelheim diente in den ersten Maitagen, nach dem Einmarsch der „Weißen“ als Gefangenensammelstelle und Exekutionsstätte. Über seine Stadelheim-Zeichnungen hat Heinrich Ehmsen nichts geschrieben. Der einzige Hinweis ist die Bildunterschrift einer Zeichnung. Von dieser ausgehend kann man ähnliche Arbeiten, aufgrund der übereinstimmenden Gebäudeanlagen, zuordnen.
Der Terror der „Weißen“ machte auch vor der Ermordung der Schriftsteller nicht halt. Ein Telegramm vom 19.5.1919 an die Bayerische Regierung in Bamberg: „wir bitten im interesse des rechtes niemanden, der nicht von ordentlichem Gericht todeswürdigen verbrechens überführt ist, erschieszen lassen zu wollen. in besonderheit nicht landauer, der immer jede anwendung der gewalt in wort und schrift zurückgewiesen hat. die liga zur befoerderung der humanitaet i a professor albert einstein (…)“ u.a. Gustav Landauer wurde am 2. Mai in Stadelheim unter brutalen Umständen ermordet.
Aus einer humanistischen Position heraus verurteilt Heinrich Ehmsen die Gewalttat im Luitpoldgymnasium (Geiselmord) ebenso wie die Morde der „Weißen“. Er steht jeweils auf der Seite der Opfer. Dazu ein Zitat von Heinrich Ehmsen, in dem er eine „humanistische Kunst“ als sein Ziel bezeichnet: „in meinem Schaffen gehe ich immer vom wirklichen Erleben und von realen Erkenntnissen aus. Der Menschlichkeit restlos zu dienen, mit meinen Mitteln der Gestaltung in Farbe und Form den Humanismus zu predigen, ist mein Ziel (…). Schöpferische Maler waren immer auch Kämpfer für den Fortschritt. Unsere Arbeit muß ein Beitrag zur Neuordnung sein, nicht für den staatlichen Aufbau direkt, sondern für seine geistige und kulturelle Untermauerung. Farbe und Form sind unsere Waffen, mit ihnen müssen wir in die Geschehnisse der Zeit eingreifen, um sie mitzubestimmen; Kritik müssen wir üben, ernst oder heiter, groß oder satirisch. Nur so können wir unser Ziel erreichen: eine menschliche, humanistische Kunst, fest im Boden der Tatsachen verwurzelt und dennoch nach den Sternen greifend.“
Heinrich Ehmsens Erschießungsbilder sind häufig uminterpretiert worden. Er hat sowohl die
Geiselerschießung (von Rätesoldaten begangen) als auch die Erschießungsszenen und Mordtaten der „Weißen“ dargestellt. Da Ehmsen nach dem 2. Weltkrieg in der DDR lebte und dort als Revolutionsmaler galt, wurden die Szenen, auf denen der Geiselmord abgebildet war, mit falschen Titeln (zum Beispiel im Museum in Halle) versehen. Aus linken Rotgardisten wurde rechte Soldateska. In Büchern und Zeitschriften wurden die Bilder mit den gefälschten Titeln jeweils schwarzweiß reproduziert. Deshalb sind zum Beispiel die roten Armbinden des Erschießungskommandos nicht zu erkennen. Ehmsens Geiselerschießung ist eindeutig zu identifizieren: Kopfbedeckung und rote Armbinden lassen zweifelsfrei erkennen, dass es sich bei dem Erschießungskommando um Angehörige der Roten Armee handelt. Ehmsens Realismus gipfelt in der porträtähnlichen Darstellung des Professors Berger, einer der erschossenen Geiseln.
Die nach der Zerschlagung der Räterepublik folgende Herrschaft der gegenrevolutionären Kräfte, die die Züge einer Militärdiktatur trug, ist geprägt durch Terrorakte gegen die Bevölkerung. Da die Revolution als Verschwörung „land- und rassefremder Elemente“ angesehen wurde, richtete sich der Zorn vor allem gegen die Fremden, die Nichtbayern, welche entweder ausgewiesen wurden oder freiwillig aus München flohen.
Kurt Tucholsky: „Wer nicht einen nationalen Bierbauch bayerischer Provenienz hat, ist ein ‚Fremder’. Der münchner Polizeipräsident Poehner mißbraucht die bestehenden, zu Unrecht bestehenden, Verordnungen zu politischen Schikanen – kurz: der nichtbayerische Reisende ist den Quälereien einer größenwahnsinnigen Partikularistenblase ausgesetzt. Dagegen gibt es eine Waffe. Fahrt nicht nach Bayern – !“
Die Bezeichnung für München als „dümmste Stadt Deutschlands“ entstand Anfang der zwanziger Jahre, ebenso der Begriff „Ordnungszelle Bayern“, der als Ehrenbezeichnung verstanden wurde. In Wirklichkeit aber war München, wie Hermann Eßwein schreibt, eine „Tobsuchtszelle der Ordnung, deren närrische Explosionen ein paar Jahre lang die Welt beschäftigt haben“.
Heinrich Ehmsen: „(…) so glaube ich sagen zu dürfen, daß ich immer dann mein Bestes zu geben vermochte, wenn mein Herz und mein Verstand sich im Kampf austobten, mein ganzes Sein teilhatte an den gesellschaftlichen Vorgängen, ja, wenn ich mitten in sie hineinsprang, um mich in ihnen zu engagieren. Meine revolutionären Gemälde, ich denke an die ‚Erschießung des Matrosen Egelhofer’, (…) sind niemals der Beschaulichkeit des Ateliers entsprungen, sondern aus der Identifikation mit den Gegenständen, die ich der Leinwand anvertraute, geboren worden.“