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Never stop working – Die unübersehbare Ankunft des Mr. James Castle

Hier ist nun einer im Museum (an-)gelandet, der wohl kaum je darauf abzielt hat, dortin zu gelangen. Weil er womöglich gar nicht wirklich wusste, was ein Museum ist: der taub geborene, “self-taught artist” James Castle ( geb.1899 in Garden Valley/ Idaho – gest. Boise/Idaho  1977), von dem wir nicht wissen, ob er sprechen, lesen konnte oder gar den Sinn von Buchstaben tatsächlich verstanden hat, trug nämlich selbst eine andere, höchst spezifische Fürsorge für sein enigmatisches, in seiner repititiven Fülle obsessives Werk aus Zeichnungen, überzeichneten Magazinen und selbstgebundenen Zeichnungsbüchern sowie den vernähten Pappschnitt-Objekten. In diesen miteinander vernetzten medialen Formen liegt ein faszinierendes, sechs Jahrzehnte umspannendes Werk vor, das man nicht vergisst, wenn man es einmal gesehen, wahrgenommen hat.

Castle schuf sein eigenes “Museum”: er verwahrte seine künstlerische Produktion nämlich – nach Größe, nicht nach Entstehung geordnet und sorgsam zu Bündeln geschnürt wie Liebsbriefe oder in Behälter aller Art eingeschlossen – in Wandnischen alter Mauern und legte seine Konvolute auf den hohen und höchsten Regalen seiner persönlichen Umgebung ab wie schamanistische Schätze. Der Künstler, der ohne jeglichen Bildungs-Kontext in früher Kindheit zu zeichnen anfing, lieferte in dieser Form der “Ablage” zugleich einen sinnhaften Beweis seiner humanen Anwesenheit und seiner für diese Anwesenheit offenbar existenziell – konstitutiven Aktivität des Bildnerischen (1). Die den Arbeiten vom Künstler zugesprochene Wirkkraft sollte offenbar mehr noch als in der Betrachtung durch Menschen mit der unmittelbaren Umgebung des Künstlers akkumulativ dialogisieren. In dieser ganz und gar ego-zentrierten Produktionsweise und Fürsorge für das Nachleben des eigenen Tuns sind autistische Züge ahnbar, die man auch an anderen Stellen des Werkes finden kann. Möglicherweise hat die dörfliche Umgebung des ländlichen Idaho, das Castle Zeit seines Lebens nicht verlassen hat, und die Reizarmut des vorfindlich engen Alltags, aus dem sich vornehmlich seine limitierten Motive speisen, diese Tendenz begünstigt und zugleich ein Werk ermöglicht, das uns – das ist seine primäre Qualität – ganz unmittelbar berührt.

James Castle, o.T., Ruß, Spucke, Papier (Courtesy Knoedler & Co., NY /  aus: James Castle -Show and Store, Museo Reina Sofia Madrid 2011, Katalognr.164 b)

Das Besondere am “Fall James Castle” ist aber, dass sein Werk – beim zweiten Blick – geradezu anbietet, konzeptuelle Strukturen und Verfahren der modernen Kunst an ihm abzugleichen, von denen er selbst aufgrund seiner isolierten Lage und seiner Behinderung nichts gewusst haben dürfte und man fragt sich, ob er diese wohl verstanden hätte (2). Bis heute ist es mir eindrücklich in Erinnerung, wie abgeschieden und verloren bereits ländliche Bereiche in Upstate New York wirken und wohl auch sein können. Hochgerechnet auf den  im hohen Nord-Westen der USA gelegenen Staat Idaho kann das ein bedrückendes Gefühl der Weltverlorenheit suggerieren. (3)  Castle war zudem nicht wie ein Goya oder Beethoven auf dem Höhepunkt künstlerischer Potenz ertaubt, sondern in diese  Situation hineingeboren.   Castles Werk erfindet ebenso innovative wie persönliche künstlerische Techniken und beschäftigt sich intensiv mit dem Verhältnis von Typografie/Schrift und Bild in besonderen Serien. Er stellt seine Werkzeuge selbst her, erfindet Schreib- und Zeichengeräte. Er generiert seine “Farbe” körperlich, indem er Ofenruß mit eigener Spucke verreibt und auf seinen Zeichnungen vertreibt. So verschweißt er die eigene Handschriftlichkeit mit der landesweit distribuierten Oberfläche der über- und unpersönlichen “printed matter”, die den amerikanischen Alltag immer mehr eroberte. Er drückt dieser medialen Folie sozusagen seine DNA auf. Er arbeitet aus eigener Entscheidung nur auf Altpapier und bedrucktem Karton aller Art – ihm angebotenes rein weisses Papier weist er hingegen als Arbeitsgrundlage zurück. Darüberhinaus stellt sich der Künstler einer dauernden Befragung und Refiguration der eigenen Werke in den Szenarien fingierter Ausstellungen, die er in seinem Studio einrichtet und die bis auf ein paar Familienmitglieder und wenige zufällige Besucher kaum jemand gesehen hat. Sie veranlassen aber immer wieder weitere Zeichnungen, die – als Fotoersatz-  Dokument und neues, komplexeres Werk zugleich sind. Schliesslich findet er  – wie oben beschrieben – seine höchst individuelle, fast fetischistische Form der Katalogisierung und Archivierung des stets und in kontinuierlicher Gleichmässigkeit nachwachsenden Outputs.

James Castle, Seiten eines handgemachtes Buchs, Ruß, Spucke, Papier, Faden (Courtesy Lawrence Markey Gallery, Texas / aus: James Castle -Show and Store, Museo Reina Sofia Madrid 2011, Katalognr.149)

James Castle, o.T., Rußzeichnungen/Papier (Museo Reina Sofia Madrid 2011, Foto: Rolf Bier)

Was wir im Werk von James Castle vor uns haben und was es über seine physisch-ästhetische Seite hinaus bedeutsam macht, ist nichts anderes als ein vollkommen geschlossener Kreislauf von Lebenswelt und künstlerischer Produktion. Darin ist Castles Werk – jenseits von ein- oder ausgrenzenden Zuschreibungen – exemplarisch für die Vorstellung von Kunst als projektiv-spiritueller Kraft, die alles durchdringt und erfasst und Welt überhaupt erst zur anteiligen Welt werden lässt. Diese animistische Dimension von Castles Werk ist sicherlich deutlich abzugrenzen von den System- und Weltentwürfen avantgardistischer Kunstbewegungen, wenn es letztlich darum geht, dem Kern des Werks gerecht zu werden.
Flankiert durch mehrere prominente Ausstellungen (Philadelphia Museum of Modern Art, 2009, Douglas Hyde Gallery Dublin 2010 und, gerade zu Ende gegangen: James Castle “Show and Store”, Museo Reina Sofia Madrid 2011) kann spätestens jetzt die nicht übersehbare Ankunft dieses bislang vor allem amerikanischen Insidern und Künstlern wie Zoe Leonhard und Terry Winters bekannten, ebenso enigmatischen wie ephemeren Werks im Bewußtsein einer breiteren Kunstöffentlichkeit vermeldet werden (4).  Die pure Begegnung mit den Artefakten berührt so stark, dass die (programmatisch) vorangetriebene Kontextualisierung des in der Tat erstaunlichen Werks in den Zusammenhang der zeitgenössischen Moderne wie ein durchaus mögliches, aber an sich gar nicht notwendiges Surplus zur sich sinnlich unmittelbar mitteilenden Faszination des Werks erscheint (5). Vor allem Lynne Cooke, die sich als ehemalige Chefin der Dia-Art-Foundation um minimalistische und konkrete Kunst gekümmert hat, versucht dies in ihrem Katalog-Essay und tut dies durchaus fruchtbar, da das Werk sozusagen “nackt”, ohne Selbstaussagen des Künstlers auf uns gekommen ist, mit denen man die Artefakte zunächst abgleichen müsste. Dabei hat sie Castles Werk in der von ihr eingerichteten Ausstellung in Madrid selbst ganz wunderbar pur, unprätentiös, ganz auf die visuell-materiale Aura der Arbeiten konzentriert in Szene gesetzt. In diesem Zusammenhang halte ich es für bedenkenswert, ob es nicht vor allem die das Werk grundierende und durchgängig spürbare Obsessivität des “Machens” selbst ist, die – ab dem Erreichen einer gewissen Siede-Temperatur – fast zwangsläufig konzeptuellem Vorgehen ähnliche oder vergleichbare Arbeitsformen gebiert.

James Castle, o.T., teilweise bedruckte Pappe, Papier, Rußzeichnung, Faden (Museo Reina Sofia Madrid 2011, Foto: Rolf Bier)

James Castle, o.T.,farbiges Papier, Rußzeichnung, Faden (Museo Reina Sofia Madrid, 2011, Foto: Rolf Bier)

Castle war bei dem später legendären Galeristen Sidney Janis in den Mitvierziger -Jahren des letzten Jahrhunderts bei seiner verdienstvollen Suche nach Beispielen amerikanischer “Folk-Art” bereits durch das spezifische Suchraster der Malerei gefallen, da sich Castle in diesem klassischen Medium der “Hochkunst” nicht betätigt hat oder auch, weil Janis vielleicht schlichtweg nicht bis Idaho vorgedrungen war. Janis, der schon früh ein Bild von Henri Rousseau gekauft hatte, wollte , indem er ausschließlich auf Malerei setzte,  offenbar ganz bewusst einen Vergleich zwischen vermeintlichem High and Low herbeiführen (6), um die Folk- Art zu nobilitieren. Zu Castles Lebzeiten selbst war  nur hin und wieder ab 1951 etwas in regionalen Ausstellungen zu sehen. Noch 1974, drei Jahre vor seinem Tod wurde er in dem offenbar wichtigen Buch “Twentieth – Century American Folk Art and Artists” nur mit zwei Zeilen erwähnt (7).

Wenn man Castle – gerade auch in Hinsicht auf im Werk angelegte konzeptuelle Strategien – von heute aus verstehen will, muss man vor allem  v i e l  von ihm sehen, um das durchgängige Prinzip von Wiederholung und Akkumulation angemessen zu erfahren. Die von Lynne Cooke in diesem Sinne souverän eingerichtete Madrider Ausstellung war genau so eingependelt, fand aber leider keine Entsprechung im ansonsten sehr schönen, auf gräulichem Recycling-Papier gedruckten Katalogbuch, das die Zeichnungen und Objekte meistens wieder isoliert. “Show and Store” – damit spielte der Titel der Retrospektive auf die äusserst wichtigen, zugleich unsichtbaren künstlerischen Tätigkeiten von James Castle´s (Lebens- )”Projekt” an (8) – umfasste zwar nur zwei, dafür aber reich gefüllte Räume. Dabei verlor die Ausstellung aber dennoch nie den Kabinett-Charakter, den das verletzliche Werk nahelegt. Museen und Sammler, die sich in den letzten Jahren dem Werk offenbar verstärkt zugewandt haben, sind so oder so gut beraten, immer ganze Werkblöcke zu erwerben, wenn sie Castle in ihren Kollektionen gerecht werden wollen (9).

Gerade jene, die ermüdet und genervt von den systemisch veranlassten Sensationen und Sensatiönchen des Kunstbetriebs sind, werden mit Castles so intimen Werk, das entlegen und in weitestgehender Unkenntnis der modernen Kunst entstand, somit jetzt reich und bezüglich heterogener Aspekte  beschenkt. Es ist bezeichnend, dass dieses besondere Geschenk von einer Position “far outside the system” auf uns kommt wie seinerzeit die Entdeckungen des im hohen Alter von 85 Jahren geschaffenen Werks des ehemaligen Sklaven Bill Traylor (1854 – 1949, Alabama) oder der in einem Chicagoer Appartement versteckten, gespenstigen Szenerien von Henry Darger (1892 – 1973, Chicago). Allesamt Werke, die wohl  – bei aller Unterschiedlichkeit – eher das jeweilige – harte, beladene, verkorkste – Leben schuf und nicht primär ein Wille zur Kunst. Dies verleiht den Werken eine Aura einer seltenen  Unmittelbarkeit und Unbedingtkeit, die nichts mit dem Betrieb zu tun hat, der sie jetzt nobilitierend aufnimmt, kontextualisiert, strategisch plaziert und natürlich auch in den Handel einspeist.

Beschenkt werden wir von James Castle zunächst mit einem ganz originären, unverwechselbaren Ton eines Zeichners, der seine direkte ländliche Umgebung (Ansichten von Farmlandschaften, Interierus von Schuppen und Ställen, Gegenständen des Haushalts, Tiere etc.) über eine Lebensspanne von sechs Jahrzehnten motivisch ebenso unspektakulär wie sinnlich aufregend kontinuierlich dokumentierte und immer neu “katalogisierte”.  Dieser Ton – man darf ihn in diesem Falle wohl problemlos “authentisch” nennen, ohne sich die Zunge zu verbrennen – fasziniert in einer extremen Mischung aus mitunter naiv anmutender Figuration und einem die kleinen Blätter und Papp-Objekte vollkommen erfassenden, zugleich entschiedenen wie grafisch großzügig atmenden Zugriff gestalterischer Offenheit. Castle “verfriemelt” sich nie: Momente deutlicher Beobachtung und künstlerische Schematisierung und Formung, mit der Castle seine lapidaren Sujets auf den – allesamt kleinen – Formaten souverän bewältigt, gehen Hand in Hand. Der mit dem Speichel des Künstlers angerührte Russ entwickelt auf den mitunter rauen oder auch von Castle selbst manchmal manipulierten Papieren dichte oft mehr malerische als grafische Valeurs. Die Eigenart der Stücke, “Castles” zu sein, ist dabei so stark, dass diese ganz primäre Anmutung über die ansonsten so verbindliche Kategorie der Qualität obsiegt: zumindestens in der Ausstellung in Madrid schien es keine “besseren oder schlechteren” Arbeiten zu geben. Castle ist immer bei der Sache, weil er sich vollkommen sicher ist, was er tut, auch wenn wir nicht wirklich wissen können, was ihn angetrieben hat. Man kommt nicht umhin, hinter der ausserordentlichen gestalterischen Kraft eine Motivation zu vermuten, die z.B. auch diverse Künstler der Art Brut umtreibt: eine Erfassung und Hypostasierung der eigenen Welt, deren Strukturen von Anfang festgeschrieben sind.

James Castle, o.T., Rußzeichnungen/ benutztes, teilweise bedrucktes Papier (Museo Reina Sofia Madrid 2011, Foto: Rolf Bier)

James Castle, o.T., Rußzeichnungen/Papier (Museo Reina Sofia Madrid 2011, Foto: Rolf Bier)

So sind seine Papier-Pappe-Objekte reine “Dingstücke”, die sich der Gestalt eines je einzelnen Gegenstands widmen wie Becher, Vasen, Körbe, und in eigenwilliger, kastenartiger frontaler Steifheit Personen, zumeist Kinder. Insbesondere diese puppenartigen Kunstwesen bevölkern dann wiederum die Zeichnungen von Interieurs, wo sie offenbar die zumeist einzigen, allerdings künstlichen Zuschauer der immer neu durchgespielten Ausstellungs-Settings waren. Zugleich wird so ihre Existenz in ein anderes Medium überführt und verlängert. Besonders faszinierend ist die scheinbar unendliche Reihe von Hemd-Objekten, in denen Castle im dekorativen Zugriff auf farbiges Papier und mitunter ornamental aufgezeichnete Musterung fast Design-Qualitäten entwickelt. Die Objekte sind alle aus Faltungen sowie den Faltungen applizierten, weiteren Papier-Schnipseln entwickelt, die Vernähungen der Papierschichten ist ebenso redundant wie sie das jeweilige Objekt im Überschuss an Schnur und daraus entstehender grafischem Ornament nobilitieren. Castle unterscheidet bei aller Flachheit seiner “constructions” dabei immer genau Vorder-und Rückseite und verweist so darauf, dass ihm der Unterschied zwischen Zeichnung und Objekt vollkommen klar war.
Castles Arbeiten erinnern – mehr in den figurativen denn in den grafisch so dichten, berückenden Landschaftszeichnungen, in denen mitunter erstaunliche Abstraktionen erkennbar werden – immer wieder an die Frische von Kinderzeichnungen und ihrem unnachahmlichen Charme – diesen lassen akademisch trainierte Künstler leider unweigerlich hinter sich, es sei denn, sie fänden einen Weg, ihn künstlich neu zu erfinden wie man es vielleicht beim späten Philip Guston sehen kann. Kinder arbeiten oft mit einer vermeintlichen Unbekümmertheit, die nur die andere Seite einer sehr ökonomischen, inhaltlich fundierten Unbedingtheit ist, die genau weiss, was zu einem gewissen Zeitpunkt auf einem Bild zu tun ist und welches grafische Kürzel darin was genau zu repräsentieren hat. Mit grosser Faszination habe ich Kinder ungeheuer entschieden und schnell an einem Bild arbeiten sehen, das sie dann aus den Augen verloren, weil sie schon mit gleicher Intensität beim nächsten und übernächsten waren. Hierbei kümmern sie sich nicht um “Qualität” oder “Entwicklung” von Bild zu Bild, wie es die akademische Kunstproduktion lehrt: der ästhetizistische “Kampf ums Bild” entfällt vollkommen. So gibt es bezeichnenderweise auch im durchweg undatierten Werk Castles, der mir aus einer ähnlichen “straightness” zu arbeiten schien, weder motivisch noch stilistisch so etwas wie nennenswerte ikonografische Progressionen.  Ich nehme diese Statik als einen Hinweis  darauf, dass es zumindestens problematisch ist, den von den Autoren des Madrider Katalogs unterschwellig nahegelegten Vergleich mit Werkstrukturen von kunstmarktsozialisierten Künstlern eins zu eins zu führen.

James Castle, o.T., Rußzeichnungen/Papier/Faden (Museo Reina Sofia Madrid 2011, Foto: Rolf Bier)

Da es keine schriftlichen Zeugnisse oder Gesprächsprotokolle mit dem Künstler gibt, der selbst offenbar das Erlernen der Gebärdensprache ablehnte und den überhaupt nur eine Kuratorin (des Provinzmuseums in Boise/Idaho) je zu Lebzeiten gesehen hat, kann nicht – und schon gar nicht endgültig – geklärt werden, aus welchem Bewußtsein Castle eigentlich gearbeitet hat (10). Es hilft nichts, den Anteilen dieser Stil-Mischung jeweils eine Vermeintlichkeit oder Kalkuliertheit zu unterstellen, da es genau jene diachronisch durchgehaltene Mischung von  naiv-mimetischer “Ungenauigkeit” ist, die sich mit einer höchst signifikanten formalen Entschiedenheit verbindet.  Das macht dieses Werk so besonders: was sich ausdrückt, ist eine vollkommen im bildnerischen Tun aufgehende Existenz, die sich – wohl vor allem, aber eben nicht nur durch ein zentrales körperliches Handicap bedingt – nur erfahren kann, indem ihre Umgebung immer wieder er-schaffen wird (11). Dieser autistisch anmutende Kreis muss zugleich einen regelrechten Ausnahmezustand in Bezug auf die alltägliche Wahrnehmung des Subjekts auslösen, das sich darin befindet und vielleicht gefangen sieht. Die hier wirkenden  psycho-dynamischen Kräfte können nur geahnt werden: denn in einer solchen Situation bleibt alles immer gleich und ist doch immer wie neu – und umgekehrt. Möglicherweise löst dies für einen Künstler im systolisch-diastolischen Rhythmus ebenso grosse Freude wie ungeheuren (Produktions-)Stress aus (12). Es ist in diesem Zusammenhang überhaupt nicht verwunderlich, dass es heisst, Castle habe immer und jeden Tag in seinem Studio-Schuppen gearbeitet und dass er seine letzte Zeichnung im Bett kurz vor seinem Tod im Krankenhaus gemacht habe. Der von anderen Sinneswahrnehmungen und von direkter Sprache ausgeschlossene Künstler bildet sich umso konzentrierter ein Vokabular, mit dem er die Welt benennen kann. Da Sprechen – vor allem auch einfaches Sprechen – Worte wiederholen heisst, muss Castle seine Motive immer von neuem angehen. Jede mimetisch veranlasste Kunst hat ihren Kern ja in der Vergewisserung und Identifizierung, dass das Abgebildete mit dem Gemeinten übereinstimmt. Wenn dem so ist, kann das Abgebildete benamt oder benannt werden.

Die Struktur von Castles Werk und seine Arbeitsweise legen eine ursächlich sprachliche Motivation selbst nahe. Seine “Typo – Zeichnungen” von Buchstaben, die er offenbar jenseits von lexikalischer Bedeutung wie  magische Zeichen nebeneinanderlegt und grafisch untersucht und formal spielerisch modifiziert, dabei auch kyrillische Lettern integriert, sind hier besonders aufschlussreich. Castles entschiedene Ablehnung des “horror vacui” des weissen Blatts, den man als “Raum ohne Information” verstehen kann, ist in diesem Zusammenhang ganz logisch: über die ausschliessliche Be- und Überschreibung von oft bedrucktem Altpapier verband er alle seine Arbeiten mit einem Kontext ausserhalb seiner  – ansonsten stummen – Welt, über den er selbst nicht verfügte: den der Sprache und allen Optionen, die sprachliche Kommunikation eröffnen kann, die Vielfalt der Dinge und der Welt ausserhalb seiner engen Umgebung. Diese Welt kam über den Briefträger in Form von Briefen, Umschlägen und Werbung aller Art verlässlich ins Haus, der kleine “general store” seiner Eltern versorgte ihn zudem mit bedruckten Kartonagen von Lebens- und Haushaltsmitteln. Alles, was Castle in die Hand nahm, hatte schon mal jemand anders angefasst. Er selbst markierte und verwandelte die Dinge und übereignete sie einem Kreislauf, von dem er ganz aus eigener Kraft selbstbewusster Teil geworden war. Dieser Kreislauf konnte nur aufrecht erhalten werden, indem er täglich arbeitete.

Rolf Bier, Alocén/ Guadalajara im September 2011

Anmerkungen:

1  Eine zunächst unpassend erscheinende, assoziative Gedankenverbindung sei wenigstens erwähnt: Der die Leiche seines Opfers ablegende, von geheimen oder perversen Kräften getriebene oder gesteuerte Mörder ist ein klassischer Topos der Kriminalliteratur und ein Forschungsgegenstand psychopathologischer Forensik. Der Täter wählt immer einen für den Tatzusammenhang bedeutsamen  Ort und inszeniert den Körper in bestimmten Haltungen. Er unterstreicht so die Bedeutsamkeit  seiner Tat, die sich so von jeder beliebigen, unkontrollierten oder zufälligen Gewalt abgrenzt. Beides versteht er nicht  nur als rituelles Dokument seiner Handlung, sondern zugleich als (verschlüsseltes) Kommunikationsangebot an die, die seine Tat interpretieren sollen und müssen.

2  Lynne Cooke beschreibt allerdings, wie Castle von einem Picasso-Buch fasziniert gewesen sein soll, das ihm in die Hände kam. Was ihn hier vielleicht so beeindruckt haben dürfte, ist die energetische Ausstrahlung  von Picassos  Arbeiten – ein Effekt von gut kuratierten Ausstellungen des spanischen “Großmeisters”, den ich  selbst immer wieder sehr positiv erfahren habe, als ich dachte, mit Picasso eigentlich “durch” zu sein. L. C., “Castle´s Place” in: James Castle – Show and Store, Katalog Museo Reina Sofia, Madrid/New York 2011, S.111

3  Mich würde nicht wundern, wenn bald das eine oder andere Motiv von Castle seinen Weg auf das CD-Cover einer Indie-Rock-Band fände.

4  Dies bedeutet u.a. vor allem auch wichtige konservatorische Fürsorge professioneller Hände, was für ein rein   aus saurem industriellen Papier und Pappe bestehenden Werk nicht zu unterschätzen ist.

5 Ein Kurator wie Harald Szeemann hat der Kunstwelt früh die Augen für die Relevanz und Bedeutung von “Outsider-Art” aller Art geöffnet und auf die ihnen oft innewohnenden, innovativen künstlerischen  Systematiken hingewiesen. Die Platzierung von Outsider-Kunst an einem ebenso dynamischen wie      zynischen Kunstmarkt ist längst kein Problem mehr, wenn eine Nobilitierung im Ausstellungswesen des      Kunstsystems erst einmal passiert ist. Henry Dargers Bilder z.B. sind seit einer ersten grösseren Museums-  Tour ab 2001  kaum mehr zu bezahlen und erreichen Spitzenpreise auf Kunstmessen. Involviert war hier i.ü.   bereits ausgerechnet Klaus Biesenbach, einer der smartesten Netzwerker des globalisierten  aktuellen  Kunstbetriebs.

6  Sidney Janis, “They Taught Themselves : American Primitive Painters of the 20th Century – 1942; reprinted, 1999

7  siehe Suzanne Hudson: “James Castle: An Art of Experience” in Madrid/NY 2011, S. 149, Twentieth Century American Folk Art and Artists, by Herbert W. Hemphill, Jr. and Julia Weissman, E.P. Dutton & Co., Inc., New York 1974

8  So bezeichnet Suzanne Hudson wohl treffend Castle´s lebenslanges, künstlerisches Arbeiten. Denn Castle  hat zu Lebzeiten keinen Beruf ausgeübt, nie etwas anderes gemacht  als sich künstlerisch arbeitend seinem    Werk zu widmen, was  in der Szene der outsider artists weitgehend singulär sein dürfte. “Yet, understood …..  Castle´s whole project – as a project, as work, as the thing that this man got up  each morning to do – suggests  a very different paradigm,   whereby it is not the single utterance, as it were, but the whole system that reveals  the significance of its constituents.” Madrid/NY 2011,  S.148/58

9  Auch Lynne Cooke weist in ihrem durchaus vorsichtig argumentierenden Essay auf die Notwendigkeit hin,  den enormen Output selbst sowie die Strukturen seiner Erarbeitung zu berücksichtigen. Nur so könne man die Entdeckung konzeptueller Strategien im Werk Castle´s machen und legitimieren: “As focus shifted to more conceptually grounded investigations of the impact of Castle´s innovative formal and material practises on the content on his art, the need for large quantities of his work to be assembled in order to test an interpretative hypothesis  against a sufficiently broad range of examples became evident.This recognition underpins the central place  accorded  “storage” in the presentation of this show.” a.a.O., S. 111

10 Der Mangel an biografischen Äusserungen und das Fehlen von Statements zur eigenen Arbeit bringt das Werk Castle´s in eine höchst ungewöhnliche Situation: die, sich ohne die Hilfe seines beredten Produzenten erklären und vermitteln zu müssen, wie wir es sonst in der Begegnung mit alten Meistern wie z.B. Vermeer oft erleben müssen. Dies ist vollkommen untypisch für einen Künstler des diskurs-geladenen 20. Jahrhunderts und rückt ihn in eine perspektivische Distanz, die mit der Aktualität der Arbeit nicht übereinstimmen will.

11 Dies bedingt eine vollkommen andere produktionspsychologische Vorraussetzung zur künstlerischen Arbeit und einen gänzlich anderen  Weg als die  Absichten eines studierten Künstlers, in System und Tradition der Kunst seinen Weg zu machen.

12 Diese offenbar grundsätzliche Disposition künstlerischer Kreativität ist dem Klischee des romantischen Künstlers wohl nur an der Oberfläche verwandt.

 

Bücher und Artikel (Quelle wikipedia)

– James Castle: Show and Store, Edited by Lynne Cooke, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia, Madrid (2011)

– James Castle, The Douglas Hyde Gallery, Dublin, Ireland (2010)

– James Castle: A Retrospective, Edited by Ann Percy, Yale University Press (2009)

– James Castle: A Retrospective, by Lynne Cooke, Artforum (December 2009) 168-171.

-Touched into Being by Stephen Westfall, Art in America, New York, (June 2001) 5-16.

– American Anthem: Masterworks from the American Folk Art Museum, by Stacy C. Hollander and Brooke Davis Anderson, American Folk Art Museum in association with Henry N. Abrams, Inc., New York, (2001)

– Twentieth Century American Folk Art and Artists, by Herbert W. Hemphill, Jr. and Julia Weissman, E.P. Dutton & Co., Inc., New York (1974) 170.

 

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