Ute Weinmann]
[February 21, 2012
Viktoria Lomaskos russische Graphic Novel »Verbotene Kunst«
Russland galt lange Zeit als eine Nation von Bücherwürmern. Menschen mit dicken Klassikern der russischen Literatur unter dem Arm prägten das Stadtbild, selbst in der vollen Metro konnte man ihnen begegnen. Verlage brachten ihre Bücher in Millionenauflage heraus und durften auf ein treues Lesepublikum vertrauen. Auch die bildende Kunst hatte ihren Platz im Alltag der russischen beziehungsweise sowjetischen Gesellschaft. Die nationalen Museen, die wahre Kunstschätze und imposante Bildergalerien beherbergen, konnten sich stets über hohe Besucherzahlen freuen, was auch an den erschwinglichen Eintrittspreisen lag. Wer sowjetisch sozialisiert ist, dem erscheinen das Lesen von Büchern und das kundige Betrachten von Bildern als Ausdruck einer kultivierten Existenz. Wort und Bild, Literatur und bildende Kunst sind nach diesem traditionellen Verständnis allerdings zwei völlig unterschiedliche Gattungen, die man auch gerne streng getrennt voneinander behandelt. Die Überschneidung von Literatur und bildender Kunst wie im Comic lässt den klassisch geschulten Betrachter zusammenzucken oder ruft bestenfalls ein abschätziges Lächeln hervor.
»Tatsächlich sprechen sich diese Werke für die Orthodoxie aus«: Szene aus der Graphic Novel »Verbotene Kunst« (Foto: Viktoria Lomasko und Anton Nikolajew)
Dabei entstanden in Russland bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts erste Comic-Geschichten. In der Sowjetunion konnte sich das Genre allerdings nicht weiterentwickeln, einzig die Kunst der Buchillustration fand breite Anerkennung. Während der amerikanische und europäische Comic aus dem Underground in die Buchläden, Feuilletons und Museen Eingang fand und 1971 von dem französischen Literaturwissenschaftler Francis Lacassin als »Neunte Kunst« in den Kanon der bildenden Künste erhoben wurde, verkümmerte das Genre zu Sowjetzeiten. Auch nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte es das Genre schwer in Russland, nicht zuletzt weil die Propaganda nachwirkte, wonach Comics einer minderwertigen US-amerikanischen Massenkultur angehörten. Zudem hatte man den Comic »Tim im Lande der Sowjets« des französischen Zeichners Georges Remi alias Hergé wohl nicht vergessen und lastete den geifernden Antikommunismus des Bandes gleich dem ganzen Genre an. Heutzutage setzen sich junge Zeichner wie Dmitrij Jakowlew, der zur St. Petersburger Künstlergruppe »Spb. Nouvelles Graphiques« gehört, dafür ein, eine Comicszene in Russland zu etablieren, und leisten dabei Pionierarbeit. Ein größeres Publikum erreichen sie aber bisher nicht. Die Zeichnerin Viktoria Lomasko aus Moskau, deren Graphic Novel »Verbotene Kunst« im Herbst in einem deutschen Verlag erscheinen wird, würde sich selbst nicht dem Genre des Comic zurechnen. Schon immer hat sie sich für die sowjetische Tradition der Buchillustration begeistert und hätte diese gerne weitergeführt. Im dritten Studienjahr an der Moskauer Hochschule für das Druckwesen sagte man ihr, Bücher seien nicht mehr gefragt, die Zukunft liege im Design. »Ich habe aber auf niemanden gehört«, erzählt sie. »Mit Design konnte ich noch nie etwas anfangen.« Sie hatte Glück und fand einen Job bei einer der wenigen Zeitschriften, die noch Karikaturisten und Illustratoren beschäftigen. Aus Künstlerkreisen musste sie sich den Vorwurf gefallen lassen, sie sei unfähig, sich der neuen Zeit anzupassen. »Mehrere Jahre habe ich mit der Suche nach einem passenden Genre für mich verbracht.«
»Ist der Segen für das Zeichnen erteilt?« (Foto: Viktoria Lomasko und Anton Nikolajew)
Gefunden hat sie ihre Bilder und Geschichten schließlich auf der Straße, in den langen Warteschlangen der Polykliniken und an anderen öffentlichen Orten. »Mich interessiert, was für Leute mich umgeben, worüber sich Jugendliche unterhalten und was Mütter ihren Kindern erzählen.« Es entstanden unzählige Skizzen und Bildgeschichten, allerdings noch ohne Text, denn obwohl sie nach einer Form suchte, die Wort und Bild kombiniert, fehlte ihr anfangs der Mut zum Texten – bis sie den Journalisten Anton Nikolajew traf, mit dem sie die russische Provinz bereiste. Auf den Reisen entstanden Zeichnungen, zu denen Nikolajew den Text verfasste. Ihre Zusammenarbeit setzten sie später in einem Moskauer Gerichtssaal fort. So entstand eine der ersten Graphic Novels in Russland – das Buch »Verbotene Kunst«. »Man muss sich waschen.« – »Wasch dich doch selbst!« (Foto: Viktoria Lomasko und Anton Nikolajew) Bereits das Umschlagbild macht neugierig. Da steht ein russischer Pope mit langem Bart und einem überdimensionierten Kreuz um den Hals auf einer Leiter und blickt durch ein kleines Guckloch in einer Wand. Etwa in dieser Pose konnten im März 2007 die Besucher einer Ausstellung im Moskauer Sacharow-Zentrum unter dem Motto »Verbotene Kunst 2006« die hinter einer Wand präsentierten Exponate betrachten. Gezeigt wurden Werke dissidenter russischer Künstler – unter anderem ein Jesus-Bild auf der Werbung einer Fast-Food-Kette –, die wegen Blasphemie aus Museen und Galerien verbannt worden waren. Der Ausstellungskurator und damalige Leiter der Abteilung für zeitgenössische Kunst der Tretjakow-Galerie, Andrej Jerofejew, wollte mit seinem Projekt eine Debatte über institutionelle Selbstzensur entfachen. Stattdessen verlor er seinen Job und handelte sich wegen »Anstiftung zum religiösen Hass« gemeinsam mit dem Direktor des Sacharow-Zentrums, Jurij Samodurow, eine hohe Geldstrafe ein. Es hätte allerdings ohne weiteres schlimmer kommen können. Die Staatsanwaltschaft hatte eine dreijährige Haftstrafe gefordert. Über anderthalb Jahre dauerte die Verhandlung, die Züge einer schlechten Theaterinszenierung trug. Die treibende Kraft hinter dem Schauprozess war die russisch-orthodoxe »Volkssynode«. Die Organisation sorgte für die Bereitstellung von über 130 Statisten, die als Zeugen der Anklage aufgerufen wurden, um die zutiefst empörte religiös-orthodoxe Öffentlichkeit zu mimen. Auf diese äußerst schrägen Charaktere, die ihre Rolle oft nur mit Hilfe von Spickzetteln zu spielen vermochten, hat sich Viktoria Lomasko in ihrer graphischen Studie konzentriert. Die Graphic Novel lebt von ihrer subjektiven Betrachtungsweise. »Hier habe ich meine Figuren gefunden«, sagt sie.
»Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.« (Foto: Viktoria Lomasko und Anton Nikolajew)
Auch wenn ihre Arbeit in der ehrwürdigen Tradition der Gerichtszeichnung steht, bleibt die Anerkennung für Lomasko in Russland bislang aus. Mit dem Verlag Boom Kniga hat sich für die Herausgabe ihrer Prozessgeschichte ein kleiner, auf Comics spezialisierter Verlag gefunden, der von den Organisatoren des 2007 in St. Petersburg ins Leben gerufenen »Boomfests« gegründet wurde. Das internationale Comic-Festival hat ein Stammpublikum, versucht aber, dem Comic neue Leserschichten zu erschließen. Durch den großen Einfluss asiatischer Animationsfilme, insbesondere der Mangas, fällt es den russischen Comic-Zeichnern nicht ganz leicht, sich zu behaupten und eigene Stilrformen zu entwickeln, doch wächst die Zahl der Zeichnerinnen und Zeichner zusehends und gelegentlich greifen sie durchaus auch gesellschaftskritische Themen auf, wie etwa der unter dem Pseudonym Chichus bekannt gewordene Pawel Suchich. Viktoria Lomasko, die sich als Expertin für graphische Gerichtsreportagen einen Namen gemacht hat, findet, dass die Genregrenzen zu eng gesteckt seien. Immer noch experimentiert sie, wobei sie es wichtig findet, sich an russischen Traditionen zu orientieren. Sie hält in ihren Bildgeschichten das Leben der aus der Großstadtperspektive völlig verdrängten Landbevölkerung ebenso fest wie das von aus Mittelasien stammenden Arbeitsmigranten oder jugendlichen Insassen von Strafkolonien. Durch ihren Zeichenunterricht in diesen von der Außenwelt völlig abgeschotteten Strafanstalten erhielt sie die Möglichkeit, Porträts von wegen Mordes verurteilten jugendlichen Neonazis anzufertigen. Die gäben in jedem Fall eine spannende Graphic Novel her. »Ich will aber nicht nur die depressiven Seiten des Lebens zeigen«, sagt Lomasko. »Man muss immer nach einer Alternative suchen.« Dafür eignen sich die derzeit in Moskau stattfindenden Großdemonstrationen für faire Wahlen hervorragend. Bislang muss die Verbreitung der wunderbaren Zeichnungen Lomaskos aber hauptsächlich im Internet stattfinden.
Die Besprechung von Ute Weinmann wurde in Jungle World Nr. 7, 16. Februar 2012 publiziert. »Verbotene Kunst« erscheint im Herbst 2012 im Berliner Verlag Matthes & Seitz.