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Henry James: Bild & Text I

Das Feature zu Henry James´ gesammelten Essays zur Illustrationskunst, die 1893 unter dem Titel Picture and Text im Verlag Harper & Brothers in New York erschienen sind, gibt ausschnitthaft und in collagierter Form einige Passagen aus der kommentierten deutschen Erstübersetzung wieder, die jetzt im Piet Meyer Verlag erschienen ist. Das Vorwort stammt von Michael Glasmeier (M G), der dieses illustrationsarchäologische Projekt auch initiiert hat. Für das Nachwort ist Alexander Roob verantwortlich (A R), die diffizile Übersetzungsarbeit der subtilen James-Texte besorgte Jan Frederik Bandel (H J / J-F B). Im Gegensatz zum Original, das die Kenntnis der angesprochenen Illustrationen und Gemälde vorraussetzen konnte und daher mit einer sehr spärlichen Bebilderung auskam, ist diese historisch-kritische Neuausgabe reichlich illustriert mit Materialien aus dem Melton Prior Institut. Sie gewährt damit nicht nur Einblicke in die Bildwelten der Künstler, die James bespricht, sondern auch in ihren komplexen illustrations-, fotografie- und filmgeschichtlichen Hintergrund.

Diese einzige von James autorisierte und wohl auch selbst zusammengestellte Kompilation seiner kunstkritischen Publizistik besteht aus sechs Essays und einem Dialogstück, das sich um die Problematik von Illustration im Bühnenbereich dreht. Der Inhalt im Einzelnen: »Black and White« (zuerst erschienen unter dem Titel »Our Artists in Europe« in: Harper’s Magazine, Juni 1889), »Edwin A. Abbey« (in: Harper’s Weekly, 4. Dezember 1886), »Charles S. Reinhart« (Harper’s Weekly, 14. Juni 1890), »Alfred Parsons« (in: Catalogue of a Collection of Drawings by Alfred Parsons, R.I., The Fine Art Society’s, London 1891, »John S. Sargent« (in: Harper’s New Monthly Magazine, Oktober 1887), »Honoré Daumier« (in: Century Magazine, Januar 1890) und »After the Play« (in: New Review, Juni 1889)

Cover der Originalausgabe von 1893 (15, 4 x 9,5 x 1,8 cm) (MePri-Coll.)

James lässt sich als Beschreibungskünstler von realistisch gemalten oder skizzierten Bildwelten bezeichnen, die seine Prosa strukturieren, ihr Raum geben, Spielraum, der klar gerahmt die Handlungen im Einzelnen szenisch, atmosphärisch, aber auch symbolisch bestimmt. Man lese nur The Portrait of a Lady mit Blick auf die Bildsprache, und alles verwandelt sich mehr oder weniger in eine Reihung von skizzierten, evokativen oder bis ins Detail ausgeführten Landschafts-, Interieur-, Genre- und eben Porträtmalereien. (….)  Die Bildobsession des Autors reflektiert sicherlich den bildmedialen Überschwang seiner Zeit, bewirkt durch einen Boom der Illustration, der Fotografie, aber auch durch die Kunstfaszination der Bürgerlichen, die sich in zahlreichen Karikaturen von Zeichnern wie Daumier widerspiegelt. Man reist zur Kunst etwa nach Italien und besucht Ausstellungen, den Salon und Künstler. Man macht den Künstler zum Protagonisten von Prosa und redet über Kunst. Der neue bürgerliche Reichtum umgibt sich mit Originalbildwerken und feiert sich in Porträts etwa von Sargent, der mit James befreundet war. Man gestaltet seine Freizeit, indem man Bildklassiker als Tableau vivant inszeniert, beschrieben von Johann Wolfgang Goethe in den Wahlverwandtschaften (1809), aber auch noch im Roman The House of Mirth (1905) der großartigen New Yorker Schriftstellerin Edith Wharton, einer der besten Freundinnen unseres Autors. Zudem ist die Bildpraxis insbesondere der viktorianischen Fotografie von den stillgelegten Bildern der Tableaux vivants bestimmt, die sich in diesem Fall – es sei hier vor allem auf Julia Margaret Cameron und Oscar Gustave Rejlander verwiesen – aber vor allem an der Renaissance, der Ritterromantik und den Präraffaeliten orientieren. (MG)

Elliot & Fry: Porträt Henry James, 1893, Rasterhochätzung, Frontispiz aus Henry James: Picture and Text, New York 1893. (MePri-Coll.)

„Wenn es auch nichts Neues unter der Sonne geben mag, so sind manche Dinge doch deutlich weniger alt als andere. Man könnte sagen, dass Illustrationen in Büchern, mehr noch in Zeitschriften ein Produkt unserer Zeit sind, sofern man Vielfalt und Vielzahl als Maßstab nimmt; auf jeden Fall aber ist es der umfassende, erfindungsreiche, teilnahmsvolle Geist, in dem wir Illustration begreifen und betreiben. Werden die Jahrhunderte einmal vor irgendein Gericht geführt und daraufhin befragt, was sie der Menschheit gebracht haben, im Guten wie im Bösen, könnte unser fesselndes Jahrhundert (dem gewiss nicht vorgeworfen werden kann, nur umhergestanden zu haben, die Hände in den Taschen) wohl ein schlechteres Plädoyer halten, als sein neu erwecktes Interesse am `Schwarz-Weiß´ anzuführen. Dieser Antrag mag mit umso mehr Zuversicht eingebracht werden, als das Interesse weit davon entfernt ist, erschöpft zu sein. Diese Seiten sind ein hervorragender Ort für eine derartige These. Harper hat die Illustration gewissermaßen illustriert und wieder und wieder Einladungen, Herausforderungen und Gelegenheiten für die Künstler geliefert. Ohne jede Anmaßung kann man darauf verweisen, um die Feststellung zu untermauern, dass die Grenzen dieser großen Bewegung, in ihrer neuen, vortrefflichen Feinheit, noch nicht auszumachen sind. (…) Das zwanzigste Jahrhundert, seine zweite Hälfte, wird zweifellos seine eigenen Schwierigkeiten kennen, aber es wird zum Ausgleich über einen großartigen Luxus verfügen, nämlich den, das Leben hundert Jahre zuvor so viel lebendiger zu sehen, als wir – selbst wir Glücklichen – das Leben vor hundert Jahren sehen. Doch dazu müssen die Illustratoren ihr Bestes geben, die unerschöpflichen Möglichkeiten ihrer Form würdigen. Sie verhält sich zumgroßen Gemälde wie die Kurzgeschichte zum Roman.” (H J. / J -F B)

Vor dem Hintergrund der späteren Ablehnung von bloßer »Verbildlichung« wird deutlich, dass es James letztlich auf eine Befreiung der Illustration aus der selbst verschuldeten Abhängigkeit ankommt, wie sie für ihn etwa in der Karikatur erreicht ist. Aber warum heißt es eigentlich Bild und Text, wo doch die ganze Welt umgekehrt von Text und Bild spricht, von Text-Bild-Verhältnissen bis hin zu Text-Bild-Hybriden? Eine Antwort könnte sein, dass paradoxer-, aber bezeichnenderweise gerade auch für James als Schriftsteller das Bild im Paragone vor dem Text kommt, da es die Wahrnehmung von Wirklichkeit und jenen »Denkraum«, von dem der gleichfalls bildobsessive Aby Warburg spricht, nicht nur ausprägt, sondern die Imagination und das Bildgedächtnis mobilisiert, um weitere Bilder zu kreieren, sei es durch einen Text, eine Illustration, eine Fotografie oder die Malerei. (MG)

Doppelseite der The Illustrated London News vom 17. September 1892 mit der von Amedee Forestier illustrierten James-Novelle Greville Fane (rechte Seite), Holzstiche (MePri-Coll.)

Von den vielen Kurzgeschichten, die James für Magazine schrieb, waren sechsundzwanzig mit Illustrationen erschienen. Forestiers Grafiken zu Greville Fane zählen zu den eigensinnigsten visuellen Interpretationen eines James-Texts. Die Titelvignette zeigt auf allegorische Weise die Fronarbeit einer fließbandartigen Feuilletonschriftstellerei, die von James in der Novelle thematisiert wird.

Die Themen seiner Rezensionen sowie seine intensiven Kontakte zu den Pariser Naturalistenkreisen legten zwar die Vermutung nahe, dass für James vor allem das Vorbild der französischen Literatur entscheidend war. Allerdings betraf das eher den mimetischen Aspekt, weniger die grundlegenden strukturellen Impulse für seine Romane und Erzählungen, über die er sich wenig geäußert hat. Sie waren weniger in der Prosa als in der Lyrik zu verorten, in den dramatischen Dichtungen eines Alfred Tennyson und mehr noch eines Robert Browning. Dort hatte sich ihm und auch seinem älteren Bruder William bereits als Jugendlichen ein teils hieratischer, teils grotesker Vorstellungsraum eröffnet, der psychologisch unendlich ausdifferenziert war. James hat diese gotischen Architekturen einer aus inneren Monologen und kunsthistorischen Verweisen bestehenden Erzählkunst nie mehr verlassen. (…) Motivisch standen Brownings Dichtungen der Kunst der Präraffaeliten ebenso nahe wie das Werk Tennysons, das von diesen reichlich bebildert wurde und entsprechend populär war. Brownings Lyrik verschloss sich dagegen dem Zugriff der befreundeten Künstler. Sie bot kaum Halt mehr für Illustration, weil sie auktorial gebrochen war und damit die einfach lokalisierbaren Außenflächen fehlten, die Dinge, die die »Freude des Illustrators« sind. Eine Ausnahme bildete der Corpus von dreihundert Zeichnungen, den der angehende Wandmaler und Glaskünstler John La Farge zu Brownings Sammlung dramatischer Monologe Men and Women (1855) projektiert hatte. (….) Der enigmatische La Farge eröffnete Henry und William James einen interdisziplinären Horizont, der ihnen einen weichen Übergang aus dem frustrierenden Malereistudium in die Felder der Literatur, der Philosophie und der Psychologie ermöglichte. (A R)

John la Farge, Henry Marsh sc.: Fairies and Spirits, 1872,Holzstich. Aus: Abbey Sage Richardson (Hrsg.): Songs from Old Dramatists New York 1873 (MePri-Coll.)

Bei dieser bekanntesten Illustration La Farges handelt es sich um eine freie Variation von Feenmotiven aus William Blakes illuminierter Dichtung Jerusalem (1804–1820). La Farges gravitätische Auffassung von Illustrationskunst leitete sich vor allem vom Vorbild der Bilddichtungen des englischen Mystikers ab.

Wie John Ruskin misstraute James der formelhaften symbolistischen Ästhetik der präraffaelitischen Nachfolgerbewegung, die durch die Kollaborationen von Morris und Burne-Jones geprägt war. Dabei stand ihm die Malerei von Edward Burne-Jones auf eine vergleichbare Weise nahe wie die mystische Kunst von La Farge und die Dichtungen Brownings. In den polierten Spiegelflächen und ätherischen Sujets seiner Malereien erkannte er eine »Kunst der Kultur, der Reflexion, des intellektuellen Luxus« (….) So sehr James allerdings von dieser spirituellen Bildwelt der späten Präraffaeliten fasziniert war, blieb sie ihm doch wegen des Übergewichts an literarischen Referenzen zutiefst suspekt. Die Erkenntnis, dass hier »Malerei mit der Schreibfeder« betrieben und »zwei unverwechselbare Linien der Kultur« kombiniert würden, schien ihm jedenfalls von der Autorenseite ein angestrengtes Nachdenken über die Grenzen der Bild-und-Text-Korrelation zu erfordern, zumal diese präraffaelitische Übergriffigkeit auch die Integrität seines eigenen Werks bedrohte. (A R)

Max Beerbohm: Topsy and Ned Jones Settled on the Settle in Red Lion Square, 1916, Rasterhochätzung              Aus: Max Beerbohm: Rossetti and his circle, London, 1922 (MePri-Coll.)

Topsy und Ned Jones waren die Spitznamen von William Morris und Edward Burne-Jones. (…) Der Autor und Karikaturist Max Beerbohm hatte sich ausgiebig mit James und seinem ästhetizistischen Umfeld beschäftigt, als Anhänger, als Kritiker und als Parodist.

Mit der Veröffentlichung seiner Novelle Daisy Miller auf beiden Seiten des Atlantiks war James ein ganz besonderer Coup gelungen. In England erschien sie in monatlichen Fortsetzungen in dem 1860 gegründeten Cornhill Magazine. Dessen hervorragender Ruf beruhte zu einem nicht geringen Teil auf der Strahlkraft der begleitenden Illustrationen. Legendär waren die Grafiken John Everett Millais´ zu den serialisierten Romanen Anthony Trollopes und die Kollaborationen des früh verstorbenen Grafikers und Malers Frederick Walker mit dem ersten Herausgeber des Magazins, dem Romancier und Cartoonisten William Thackeray. (A R)

John Everett Millais, Brothers Dalziel sc.: »Your son Lucius did say – shopping«, 1862, Holzstich, Aus: Anthony Trollope: Orley Farm, Band I, London, 1862  (MePri-Coll.)

Millais’ Grafik zu Anthony Trollopes Familiensaga Orley Farm galt als Meilenstein einer neuen realistischen Form der Illustrationskunst, die mit subtilen psychologischen Andeutungen  arbeitete. Edwin Abbey fand, dass die Qualität der Bebilderung hier den Rang der literarischen Vorlage weit übertraf.

Über das Cornhill Magazine lernte James den elf Jahre älteren Zeichner und Autor George du Maurier kennen, der einer der herausragenden und vielseitigsten Illustratoren der Zeit war. Du Maurier hatte gemeinsam mit Whistler in Paris Malerei studiert, im gleichen Lehratelier wie Monet und Renoir. Im Gegensatz zu dem exzentrischen Whistler distanzierte er sich allerdings nach seinem Umzug nach London von seiner Bohème-Vergangenheit und machte Karriere als Hauszeichner beim konservativen Punch Magazine. Er war eng mit Millais und Burne-Jones befreundet und improvisierte mühelos auf der präraffaelitischen Klaviatur, sowohl in affirmativer als auch in parodistischer Weise. James schätzte ganze Spektrum von du Mauriers Zeichenkunst, das vom surrealen Comic bis hin zur subtilen Gesellschaftsreportage reichte. Obgleich seine Illustrationen zu James’ nächstem Roman Washington Square im Cornhill Magazine nach du Mauriers eigenem Bekunden »deutlich und katastrophal « an »der Unpassenheit« der Vorlage gescheitert waren, entspann sich eine lebenslange Freundschaft zwischen den beiden. (A R)

George du Maurier: A Legend of Camelot, Part II: »Jew-laden on her way she went!«, 1866, Holzstich, Aus: Punch Magazine, London, 10. März 1866, in: Gleeson White: English Illustration. »The Sixties«, London 1903 (MePri-Coll.)

In der mit antisemitischen Anspielungen gespickten Punch-Serie Legend of Camelot parodierte du Maurier den ästhetizistischen Hype um die Artussage, die von den Präraffaeliten vielfach illustriert wurde.

George Du Maurier, Joseph Swain sc.: „Morris had a sweet, light tenor voice“, 1880, Holzstich, Aus: Henry James: Washington Square, Kapitel VII, in: Cornhill Magazine, Band XLII, London 1880 (MePri-Coll.)

„Was Herr du Maurier versucht hat, ist, aus tausend miteinander verknüpften Zeichnungen ein satirisches Bild des gesellschaftlichen Lebens seiner Zeit und seines Landes zu entwerfen. Es lässt sich leicht erkennen, dass `ein Endzweck wachsend durch sie läuft´; sie hängen alle zusammen und verweisen aufeinander – sie vervollständigen, bestätigen, korrigieren, erhellen einander. Gelegentlich sind sie nicht satirisch: Satire ist nicht reiner Zauber, und der Künstler nimmt es sich heraus, sich auf reinen Zauber zu verlegen. Von Zeit zu Zeit hat er es sich herausgenommen, sich auf reine Fantasie zu verlegen, so dass die Satire (die sich an die Mähne des Wirklichen klammern sollte) auf der anderen Seite des durchgegangenen Pferdes hinabrutscht. Und doch bleibt er im Ganzen, den Stift in der Hand, ein prächtig tüchtiger und wahrhaftiger Historiker seiner Zeit und seiner Zivilisation.“  (H J. / J -F B)

George du Maurier: Probable results of the Acclimatisation Society.- The Streets, 1865, Holzstich, Aus: Punch´s Almanack for 1865, London, 1865. (MePri-Coll.)

»Wir empfehlen dem Leser, sich Punch’s Almanack von 1865 zuzuwenden, in dem auf zwei brillanten ganzseitigen Illustrationen Wahrscheinliche Resultate der Akklimatisationsgesellschaft vorgestellt werden. Nichts könnte reicher sein an filigranem Vorstellungsvermögen und bildnerischer Anlage als diese Prophezeiung von der Domestikation unzähliger fremder Tiere (…) in den Straßen Londons und an der Serpentine.« (Henry James: »George Du Maurier and London Society«, in: Century Magazine, London, Mai 1883)

George du Maurier: Jenkin’s Nightmare II, 15. Februar 1868, Holzstich, Aus: Punch Magazine, London, 1868 (MePri-Coll.)

James schätzte besonders diejenigen Arbeiten du Mauriers, »in denen er aufhört vorzugeben,real zu sein, wie im Traum des ängstlichen Jenkins, der sich durch ein riesiges verkürztes Droschkenpferd zu Tode geschleudert sieht. Du Mauriers fantastische Seite – und wir sprechen von ihren extremen Ausbildungen – ist stets bewundernswert, geistreich, überraschend, bildhaft; in einem solchen Maß, dass wir uns schon oft gewundert haben, warum er diese Richtung nicht ausgiebiger pflegt.« (Henry James: »George Du Maurier and London Society«, in: Century Magazine, London, Mai 1883)

James’ Perspektive auf die Karikaturgeschichte war eine postrevolutionäre. Sie setzte nach dem konservativen Umbruch der Presselandschaft ein, der auf die Niederschlagungen der 1848er-Erhebungen folgte, und stand der radikalen sozialreformatorischen Gründungsphase der Philipon-Presse und des Punch Magazine ignorant gegenüber. Die Kunst der beiden Chefzeichner des Pariser Charivari und des Londoner Punch, Honoré Daumier und John Leech, wurde für James erst relevant, als sie aus dem anfänglichen Modus frühsozialistischer Politgrafik zur unverfänglichen Gesellschaftssatire (caricatures de moeurs) gewechselt waren. (…) Die caricatures de moeurs waren nicht nur eng mit dem Feuilletonroman verbunden, sondern auch mit dem Theater. Die Karikaturisten übernahmen Bühnencharaktere und popularisierten sie. Das bekannteste Beispiel war der Schurke Robert Macaire, der von Charles Philipon für eine gesellschaftskritische Cartoonserie Honoré Daumiers adaptiert wurde. Ebenso kam es vor, dass bekannte Cartooncharaktere eine zweite Existenz auf der Bühne führten. Nicht nur für den Dramatiker James, der seine Stücke in der Tradition des karikaturesken Konversationsstücks (Comedy of manners) abfasste, sondern auch für den Erzähler bedeuteten die Typen und die situativen Zuspitzungen der caricatures de moeurs eine unerschöpfliche Inspirationsquelle. (A R)

Charles Philipon & Honoré Daumier: Caricaturiana (Les Robert-Macaire) No. 20: A Toutes les Personnes qui ont des Capitaux a perdre, Paris, 1838, Lithografie, schablonenkoloriert (MePri-Coll.)

In der Serie Caricaturiana adaptierten Philipon und Daumier die populäre Bühnenfigur des Straßenräubers Robert Macaire und führten sie mit der ungehemmten Profitgier des neuen Marktliberalismus unter dem sogenannten Bürgerk.nig Louis-Philippe eng. Macaire wurde zum Inbegriff für das florierende Spekulantentum und das neue Phänomen der Public Relation.

„Journalismus ist eine Kritik des Augenblicks in diesem Augenblick, und die Karikatur vereinfacht diese Kritik und verstärkt sie zugleich, indem sie ihr eine plastische Bildform gibt. Wir kennen satirische Bilder als periodisch und reaktionsschnell – zunächst Eigenschaften des Druckwesens, die sich durch Gewohnheit hartnäckig mit ihnen verknüpft haben. Weshalb es uns im Übrigen gehörig erstaunt, dass es der Karikatur in Amerika, zumindest bislang, nicht gelungen ist, den ihr gebührenden Rang einzunehmen – ein Scheitern, das Anlass liefern könnte zu allerhand erläuternden Abhandlungen, allerhand Fragen nach den Verhältnissen. Man hat es dahin gebracht, dass das Zeitungswesen hier in einem Maße floriert, wie es nirgends sonst floriert, dass es dazu noch heiter und unehrerbietig floriert; doch dieses hilfreiche Nebenprodukt eines skrupellosen Geistes und einer raschen Periodizität hat es sich niemals recht zu eigen gemacht.“ (H J / J -F B)

Bemerkenswert war James’ Daumier-Beitrag vor allem in Bezug auf seine Einschätzung der amerikanischen Karikatur. Seine Ansicht, dass sie im Vergleich zur grafischen Satire Englands und Frankreichs noch immer unterentwickelt sei, ging auf seine Erfahrungen der Sezessionskriegszeit zurück. In seiner Autobiografie A Small Boy and Others beklagte er, dass sich ihm als Jugendlichem die Charaktere der amerikanischen Politik nicht visuell eingeprägt hätten, und er führte dieses Defizit auf das Fehlen eines amerikanischen Pendants zu Punch zurück. Diese Situation hatte sich jedoch schon kurz nach dem Bürgerkrieg geändert, als sich Thomas Nast, der neben Winslow Homer als führender grafischer Propagandist der Nordstaaten galt, dem politischen Cartoon zuwandte. (…) An grafischer Prägnanz stand er seinen europäischen Kollegen in nichts nach; an politischem Biss und Einfluss übertraf er sie bei Weitem. Zu den vielen Imitatoren dieser überstrahlenden Figur der amerikanischen Pressegrafik zählte auch der junge Charles Reinhart, der es bereits im Dezember 1871 mit einem Nast-artigen Cartoon auf die Titelseite von Harper’s Weekly geschafft hatte. Wenn James in seinem in Picture and Text abgedruckten Beitrag über Reinhart diese frühen Arbeiten als »nach Art der ›Cartoons‹ in komischen Zeitschriften« charakterisierte, dann waren ihm hier die Mühen der Auslassung förmlich anzumerken.

Charles S. Reinhart: The Tammany Tiger strung up, 1871, Holzstich, Aus: Harper´s Weekly, Nr. 779, New York, 2. Dezember 1871. (MePri-Coll.)

Bekannt wurde Charles Reinhart mit einer Reihe politischer Cartoons in der Art Thomas Nasts.

Es waren gleich mehrere Merkmale, die den Begründer der amerikanischen Karikaturbewegung zur James’schen Unperson qualifizierten. Obgleich Nast nur drei Jahre älter war als James, standen die beiden für zwei geradezu oppositionelle Epochen der amerikanischen Geschichte. Während der in finanzaristokratischen Verhältnissen aufgewachsene Literat wie kaum ein anderer die kulturelle Finesse und politische Indifferenz des prosperierenden Gilded Age repräsentierte, vertrat der in politisch radikalen Emigrantenkreisen sozialisierte Cartoonist noch die aufklärerische Reformkultur der 48er-Generation. Nasts Kunst stand für den konfrontativen Geist der Kriegs- und Aufbaujahre. (…) Die Epoche der Reconstruction, die man mit Nasts Cartoons verband, mutete James Anfang 1890 in seinem Artikel über Reinhart bereits prähistorisch an. Aber auch in James’ reformerischem Elternhaus waren die Karikaturkampagnen Nasts vermutlich nicht wohlgelitten gewesen, denn sie waren anti-irisch und damit gegen die eigene Herkunft gerichtet. Hinzu kam, dass man ihn für den Tod von Horace Greeley verantwortlich machte. Der enge Freund und Verleger von Henry James senior war 1872 im Verlauf seiner Präsidentschaftskandidatur für die Demokraten persönlich derart demontiert worden, dass man sein überraschendes Ableben kurz nach der Wahlniederlage vor allem auf die Betriebsamkeit von Nasts infamem Zeichenstift zurückführte. Der »skrupellose Geist«, dessen Fehlen James in seinem Daumier-Beitrag in Picture and Text paradoxerweise für das Scheitern der amerikanischen Karikatur verantwortlich machte, war in Nasts interventionistischen Kampagnen ungleich manifester gewesen als in den jovialen Grafiken eines Daumier oder der loyalistischen Publizistik von Punch. Die Vermutung, dass James’ Ignoranz gegenüber dem phänomenalen Aufstieg der amerikanischen Karikatur einem ähnlichen nationalen Ressentiment geschuldet sein könnte wie die Auslassung Menzels, liegt nahe, denn der pfälzische Immigrant Nast repräsentierte mit seiner immensen Popularität wie kein anderer deutsche Kultur in Amerika. Obgleich er selbst auch maßgeblich vom politischen Cartoon des Punch geprägt war, unterminierte Nasts Erfolg die Präsenz der englischen Karikatur auf dem amerikanischen Markt und beförderte stattdessen den Einfluss der deutschsprachigen Karikatur und Bilderbogenkultur. ( A R )

Thomas Nast: What H. G. knows about thrashing, 1876, Holzstich, Aus: Harper’s Weekly, New York, 13. Juli 1872 (MePri-Coll.)

Um die Wiederwahl des befreundeten Präsidenten Ulysses Grant zu sichern, war Nast jedes Mittel recht. Hier bezichtigte er Grants Gegner Horace Greeley, einen ehemaligen Abolitionisten, wegen seiner avisierten Aussöhnungspolitik mit den Südstaaten, ein Anhänger der Sklaverei zu sein.

Gemeinsam mit dem evangelikalen Once a Week repräsentierte das literarische Cornhill Magazine die Speerspitze der englischen Illustrationsrenaissance der 1860er-Jahre. Die Entwicklung einer gehobenen Magazinkultur im Amerika der 1870er-Jahre war vor allem an diesen beiden viktorianischen Vorbildern orientiert. Zur Zeit, als sich James in London etablierte, begann sich dieses transatlantische Hegemonialverhältnis in der Illustrationsgrafik allerdings bereits umzukehren. (….) In keinem anderen Land war die Entwicklung moderner Kunst so eng an das Verlags- und Illustrationswesen gebunden wie in Nordamerika, und nirgends waren die Grenzen zwischen freier und angewandter Kunst fließender. Dass James dieses augenfällige Phänomen in seinen Rezensionen kaum gewürdigt hat, hängt nicht nur mit seiner speziellen Agenda als illustrationsgeschädigter Autor zusammen, dem es vor allem darum ging, die Bebilderung eigener Werke zu verhindern, und der deshalb wenig Interesse daran haben konnte, einer Progressivität von Illustrationskunst das Wort zu reden. Im Zentrum stand für ihn nicht die Überwindung tradierter künstlerischer Gattungshierarchien, sondern im Gegenteil die Betonung ihrer Vorbildfunktion. (A R)

­Henry James: Bild & Text, hrsg.von Michael Glasmeier und Alexander Roob, Piet Meyer Verlag, Kapitale Bibliothek Nr. 16

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