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Ronald Searle, Fugitive

Ronald Searle ist neunzig geworden. Man feiert das in London mit einer Ausstellung im Cartoon Museum, die bis zum 4. Juli läuft. Sie wurde von Steve Bell kuratiert, der im Guardian eine Eloge auf ihn  publiziert hat. Noch viel ausgiebiger  feiert man in Hannover im Wilhelm- Busch- Museum durch eine  Art Dauerausstellung, die noch bis zum Ende des Jahres zu sehen ist.

Anfang der fünfziger Jahre  hatte der Züricher Diogenes Verlag sein Verlagsprogramm mit einer Kompilation von Searle´s Zeichnungen aus seiner lasziv – anarchischen  Internatsutopie  St. Trinian´s eröffnet und den britischen Cartoonisten damit auch im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht. Friedrich Dürrematt  nannte ihn einen Jonathan Swift der Feder und man  stellte ihn in eine Reihe mit Daumier und Busch. Das Hannoveraner Karikaturmuseum hatte das anspruchsvolle grafische Programm des erfolgreichen Schweizer Verlags von früh an mit  Ausstellungen flankiert und auch die künstlerische Entwicklung von Searle seit den frühen sechziger Jahren begleitet. Die subversive Power seiner St. Trinians– Kultserie, die im prüden England der Nachkriegsjahre wie eine Bombe eingeschlagen war,  und einen Teddy Boy und Rock´n Roller wie John Lennon nachhaltig beeindrucken konnte,  war jedoch bald ermüdet. Der aggressive karikatureske Zugriff, der in der besten britischen Tradition eines  Rowlandson und Gillray stand, wurde gegen einen preziösen Graphismus eingetauscht, der sich im Kielwasser der Experimente von Saul Steinberg herausgebildet hatte. Searle´s Karikaturen, die in den siebziger Jahren inflationär verbreitet waren, wurden wegweisend für eine affektierte Art der Strichführung, die selbst verliebt den Arabesken einer spontanistischen Erfindungskraft folgt. Das Markenzeichen Searle war ein Rowlandson spumante für Rauchglastisch und Pfeifenhalter.

Dass es unter der gedrechselten Oberfläche des arty cartooning allerdings noch einen ganz anderen Searle gegeben haben musste, das wurde Mitte der achtziger Jahre evident, als unter dem Titel „ To the Kwai and Back: War Drawings 1939 – 1945“ eine größere Auswahl seiner Lagerzeichnungen veröffentlicht wurden, die zur Zeit seiner japanischer Kriegsgefangenschaft in Burma  entstanden sind. Sie zählen in ihrer stilistischen Vielfalt und detaillierten Beobachtungsgabe zu den hervorragenden Beispielen dieses dokumentarischen Genres und befinden sich als geschlossenes Konvolut (ca. 300 Zeichnungen)  in der Sammlung des Imperial War Museum in London.

Auch später hatte Searle dieses Standbein seiner Kunst in der grafischen Dokumentation nie ganz aufgegeben und war als zeichnender Reporter für eine Vielzahl von Magazinen unterwegs. Was die Konsequenz der Einlassung betraf, so stand er in dieser Profession allerdings immer im Schatten seiner beiden befreundeten Künstlerkollegen Paul Hogarth und Feliks Topolski. Wie der wenig ältere deutsche Cartoonist Manfred Schmidt hatte er sich dabei vor allem  als  grafischer Chronist des Massentourismus  der Wirtschaftswunderjahre hervorgetan. Eine Auswahl von heiteren Stadtporträts ist 1962 in Deutschland unter dem Titel “Quo vadis” erschienen, zusammen mit Texten von Wolfgang Hildesheimer.

Vorm Eisernen Vorhang (Berlin, 1959)

Es gelang ihm allerdings nur in einer einzigen Publikation “Refugees”, die  1960 anlässlich der Einführung des Weltflüchtlingsjahr in  Camps auf aller Welt  gezeichnet wurden, zu der dokumentarischen Dichte seiner Kriegszeichnungen zurückzufinden und mit den reportierenden Qualitäten von Paul Hogarth´ “Cold War Reports” gleich zu ziehen. Im Ronald Searle Tribute – Blog finden sich weitere Beispiele dieser Flüchtlingszeichnungen aus einem illustrierten Beitrag im  Punch Magazine vom 30.12.1959.  Für das Life-Magazine zeichnete er in den frühen Sechzigern eine Reihe von Reportagen, u.a. über eine UNO-Vollversammlung in Genf und den Eichmann-Prozess in Jerusalem. Die grafischen Zeugnisse zu diesen Jahrhundert-Prozess und sicherlich noch vieles mehr, was er an dokumentarischen Auftragsarbeiten abgeliefert hat, finden sich  anscheinend in den 41 Kisten mit Materialien und Zeichnungen, die Searle jüngst dem Wilhelm Busch Museum vermacht hat. FAZ – Donaldist Andreas Platthaus hat in Hannover bereits einen exklusiven Blick in das Eichmann-Konvolut werfen können – er spricht von “atemberaubenden Bildern” und “schonungslosen Porträts” – bevor er sich  dann,  versehen mit einer “handgezeichneten Wegskizze” auf den Weg zu Searle´s Geheimdomizil in der Provence gemacht hat ( es handelt sich dabei, wie ein weiterer Searle – Pilger in Times online verrät, um den Ort Tourtour) um den Jubiliar dort über  dessen Meinung zur Kunst von Bernard Buffet zu befragen.  Searle fühlt sich anscheinend bedrängt durch die Präsenz der Kunst des französischen Malers, der 1999 in Tourtour verstorben ist und dessen penetrierender grafischer Stilwille dem Seinen nicht ganz unähnlich ist.

Ronald Searle, Eichmann on Trial, Life Magazine 1961

Man darf auf jeden Fall gespannt sein, welche Schätze der Hannoveraner Werkkomplex von Searle noch birgt und vor allem auch, wie man im Busch-Museum damit umzugehen  gedenkt. Lässt sich an ihm doch ideal der traditionelle Nexus zwischen Karikatur und grafischer Dokumentation exemplifizieren. Searle selbst hat diesen engen Zusammenhang bereits in seinen Sammlungsbeständen zur Karikaturgeschichte verfolgt. Diese wurden Mitte der achtziger Jahre  vom Busch-Museum angekauft und bilden nunmehr den internationalen Grundstock des Museumsbestandes. Die pedantische Weise mit der Searle´s historische Sammlungsbestände in Hannover quasi  eins zu eins als Reliquie rekonstruiert worden sind („ They even photographed my bookshelves in the same order, and rebuilt my library in the museum – very Germanic.“) lässt allerdings befürchten, dass es  dort genau an dem mangelt, was im Umgang mit Searle´s Werk von Nöten wäre: an kritischer Distanz.

Unter den vielen Stimmen, die den greisen Cartoonisten ehren, ragt die des Regisseurs Mike Leigh heraus. In einem Beitrag für den  Daily Telegraph verweist dieser Meister des  britischen sozialkritischen Kinos auf das realistische Potential in Searle´s Werk und erklärt  anhand einiger ausgewählter Beispiele aus dessen frühen Beiträgen für  das Punch Magazine, wie ihn die pointierte Beobachtungsgabe  des Karikaturisten gelehrt habe, Filme  zu drehen. Leigh´s  Essay gelingt es, die Wurzeln von Searle´s kapriziösem grafischen Eskapismus freizulegen und ihn  dadurch mit  der  sozialrealistischen Tradition von William Hogarth und Henry Mayhew zu versöhnen, mit einer grauen aber lebendigen  Wirklichkeit der britischen Hauptstadt, der Searle  1961 durch seine abrupte Flucht in ein verheißungsvolles Paris zu entkommen versuchte.

Alexander Roob

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Lines that taught me film-making
Mike Leigh explains how Ronald Searle’s ‘realistic’ cartoons inspired him, Daily Telegraph, Saturday 27,02. 2010

Mike Leigh,  noted for his experimental methods of achieving realism in film, explains how a book of cartoons given to him at the age of six shaped his approach to filmmaking.

Bar in North Berlin at the corner of Mullerstrasse and Transvaalstrasse August 9, 1959

As an artist reporter, Searle travelled to all sorts of places, and he could sketch anywhere — even from the rowdy pit at the ringside of a wrestling match.

This drawing of men drinking at a bar in Berlin is wonderful. I love the composition of it, how the scene is broken up by the figure in the foreground, and the way he creates an atmosphere yet is so economical with his line. I don’t suppose people posed for him, but if so it doesn’t matter because he got them as they really were. That is why he was such a sophisticated drawer, and why his hand is so recognisable.

Of course, one has seen his drawings all over the show, in all kinds of different contexts: books, Lemon Heart rum advertisements, animated stuff. It’s all part of a huge Searle memory. I’m so imbued with Ronald Searle. And I think if you really flushed out everybody who made that claim — including me and John Lennon — it would be a very long list.

Street Sweeper

Searle observed and drew at the same time, so this sketch of a street sweeper in Paddington would have been made as he stood there on the pavement watching this man at work. I don’t remember a device like that so it must be from the Forties or Fifties. It’s not just people that Searle takes pleasure in, but the items people wore and used. It’s a joy of things. I can tell how much Searle enjoys each piece of the street sweeper’s barrow – and the wheels! The objects become an extension of the personalities.


The Obsolete Generation (From Holiday magazine December 1963)

It is the poetry of life and a sense of the profundity of human experience that is expressed through Searle’s line. This scene comes under the heading of caricature, but actually it suggests something else: the sense of time passing, of doom, of lives. Of course, they’re sitting on a mortuary advertisement on the back of the bench, which reinforces all of that. It is a sympathetic and passionate observation of life.

Searle was a very versatile artist: he could do satire, for example his series The Rake’s Progress (1955) after the paintings by 18th-century artist William Hogarth; he did some quite finished portraits of famous people; he was also the theatre critic for Punch for 13 years. But to me, what’s important is his incredible observation of reality, and his ability to get people, to capture a character. That’s what fascinates me the most. As a filmmaker, that’s what it’s all about.


Coney Island  (Sketch for Punch magazine July 24, 1957)

Look at the feet. Those are the famous Ronald Searle feet and shoes. You can instantly see the quality of his pen line – so perceptive, so human. Searle has this great freedom and he’s not affected. He allows himself — as I think all great art does — to improve within the moment. He’s not worried about “making mistakes”. They can be such a gas.

It’s part of the texture of the thing. He’s concerned with its living, organic, spontaneous truth. It really is exciting the accuracy, originality and delight with which he looks at the real world and makes us look at the real world.

Kallithea Camp Athens 1959 (from: Refugees)

As a film-maker, I find this drawing clever and exciting. Taken from a series of illustrations Searle did for a book called Refugees, 1960 to “promote awareness” of the state of world refugees, it’s a compassionate response to somebody’s pain and the dreadfulness of their condition. What’s great is the tension between the detail of the environment and the character. Learning about Searle at art school taught me that you have to have a clear overview or sense of the structure of a scene before you can work into the detail. Here, you get a tangible sense of the environment – bleakness, coldness, the poverty of it – and yet the tiny figure of the woman is such a strong presence. The detail of the character, the trees, is very clever. Each little thing balances the whole into a moment-to-moment filigree.

Mike Leigh

 

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