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“… The World Was Becoming Numerical.” Informationsgraphik und Kunst in den Kartenbildern von Dierk Schmidts “Die Teilung der Erde”

Informationsgraphik und Kunst in den Kartenbildern von Dierk Schmidts „Die Teilung der Erde“

Der Essay ist Teil der umfangreichen Projektdokumenation “Dierk Schmidt: The Division of the Earth – Tableaux on the Legal Synopses of the Berlin Africa Conference.”  Edited by Lotte Arndt, Clemens Krümmel, Dierk Schmidt, Hemma Schmutz, Diethelm Stoller, Ulf Wuggenig, englisch / deutsch, Köln 2010.

Die Bildserie „Teilung der Erde“ von Dierk Schmidt ist von einem visuellen Paradigma bestimmt, das modernistische Flächigkeit und kartographische Darstellungsformen vereint. Die Tafeln zeigen, was sie sind: der Grundriss des Berliner Palais Radziwill, in dem die so genannte Afrika-Konferenz stattfand; eine Karte des Kongobeckens um 90 Prozent gedreht; der Grundriss eines namibianischen Fest- beziehungsweise „Kommandoplatzes“ eine Art inoffizielles „Herero-Parlament“, mit Schrittspuren einer politischen Zeremonie; einen Plan, der abermals durch Spuren die Rechtsschritte der Entschädigungs-Klage der Herero nachvollziehbar macht; und nicht zuletzt eine weiße Fläche, auf die Buchstaben – ein Brief – aufgebracht sind. Die Figuren Karte, Plan, Schema oder Grundriss gehören alle einem flächigen Darstellungsmodus an, der seit der Moderne für die abstrakte Malerei paradigmatisch ist. Schmidt adressiert allerdings weniger diese künstlerisch formalistische Abstraktion, als vielmehr Wissensfelder, die ebenfalls abstrakte Darstellungsformen bemühen, wie Statistik und Kartographie. Anhand des Bildmodus werden die Tafeln in eine spezifische Geschichte eingeschrieben: die Kolonialisierung Afrikas bis hin zur Klage der Herero auf Entschädigung. Die Bilder sind damit eher eine formalistische Reflexion als ein bildpolitischer Beitrag zu der Frage, wie man sich in Deutschland zur eigenen Kolonialvergangenheit und deren Folgen verhält und wie diese darstellbar sein könnten. Insofern gehen die Tafeln über Wissensfragen hinaus und kreisen um Parameter, die moderne Abstraktionsprozesse insgesamt betreffen: Wie sind politische Ereignisse darstellbar und erinnerbar, wenn diese auf abstrakten Prozessen und juristischen Verhandlungen beruhen? Wie kann man Geschehnisse aufgreifen, die durch ihr langes Vergangensein möglicherweise abstrakt geworden sind? Wie stellt man Gewalt dar, wenn diese strukturell ist und von bürokratischen Verwaltungsakten ausgeht? Wären nicht eher die Wirkungen und Effekte der Macht zu zeigen, ihre Grausamkeit? Wie lassen sich regierungstechnische Mittel und ihre Funktion visualisieren? Die folgenden Abschnitte gehen diesen Fragen und ihren Implikationen nach, indem sie den Bildmodus, den Dierk Schmidt gewählt hat, im Rahmen einer Genealogie kartographischer und diagrammatischer Darstellungsformen untersuchen.

Funktionale Abstraktion

Wenn sich in der Kunst, wie es jüngst häufig geschieht, auf abstrakte Darstellungsformen aus anderen Wissensfeldern bezogen wird, dann meist in der Absicht, die Wirkung von Abstraktionsprozessen zu untersuchen und der Frage nachzugehen, welches neue Wissen, welche Mittel des Regierens, der Normierung und Subjektivierung durch diese geschaffen wurden und wie strukturelle Machtgefüge visualisiert werden können.2 Im Zuge dieser Auseinandersetzungen sind Informationsgraphiken ins Blickfeld gerückt, mit denen Gegeninformationen produziert oder Machtstrukturen analysiert werden. Etliche Künstler/innen haben das Erbe Öyvind Fahlströms angetreten, der schon früh die modernistische Flächigkeit der Malerei aufgemischt hat, indem er politische Ereignisse und Machtverbindungen als Karten malte. Zu diesen Künstler/innen zählen Mark Lombardi, der diagrammatische Zeichnungen zu Finanzskandalen erstellt, die Gruppe Bureau d’Études oder Ashley Hunt, die weltweiten Finanzverbindungen nachgehen, Alice Creischer und Andreas Siekmann, die den bildstatistischen Atlas von Otto Neurath und Gerd Arntz aktualisieren, oder auch, eher die formalistische Moderne befragend, Florian Pumhösel mit seiner Arbeit „Animated Map“.3 Sie alle verhalten sich mit jeweils differierenden Implikationen und künstlerischen Einsätzen zur Frage, wie Machtstrukturen darstellbar und Verantwortungsträger oder schlicht Subjekte darin verortbar sind. Zwar können einzelne künstlerische Arbeiten keine umfassenden Machtanalysen leisten. Sie können aber bestimmte Funktionsweisen, Einsatzorte und die Effekte einer funktionalen und systematischen Abstraktion thematisieren.

Ashely Hunt,” A World Map”. From: “Which We See..”, 2004- (courtesy Betty Rymer Gallery, Chicago)

Bureau d´études de l´Université Tangente, “Governing by Networks I”, Mapping of Borderline Biennial, 2007 (courtesy Abode of Chaos, OrgAn Museum and Thierry)

Dass sich hierfür diagrammatische Darstellungen besonders eignen, liegt an einer wechselseitigen Bedingtheit von modernen Regierungstechniken und der spezifischen Visualität von Diagrammen. Auch Dierk Schmidt setzt mit dem diagrammatischen Bildmodus seiner Serie „Die Teilung der Erde“ an diesem Wechselverhältnis an: Als Karten, Grundrisse und Pläne fügen sich die Tafeln in eine Zeichensprache ein, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der Statistik im Rahmen von Ökonomie, Ingenieurs- und Verkehrswissenschaft entwickelt und zunächst in der Gesundheits- und Bevölkerungswissenschaft eingesetzt wurde.4 Zu allen neueren Staatstheorien gehört die Feststellung, dass der Staat auf diese Form des quantifizierbaren Wissens angewiesen ist. Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl stellt die von dem Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz im 17. Jahrhundert entworfene Vision eines statistischen Büros, eines staatlichen „Intelligenz-Amts“ vor, das eine umfassende Wissenserhebung zu betreiben habe. Um über dieses Wissen sofort verfügen zu können, schlug Leibniz dessen Systematisierung anhand von Land- und Seekarten, architektonischen Umrisszeichnungen und vor allem die Buchhaltekunst vor, „in der alles in die enge getrieben, und augenscheinlich oder handgreiflich gemacht wird“.5 Graphen, Kurven und Tabellen, die mathematische Kalkulation und rhetorische Evidenz miteinander verbinden, bilden damit eine Basis neuzeitlicher und moderner Staatlichkeit.6 Auch fanden sie in sozialistisch-aufklärerischen Projekten Verwendung, wie im Fall des Wiener Instituts für Bildstatistik im frühen 20. Jahrhundert zum Zwecke der Volksaufklärung in Bereichen der Wirtschaft, des Wohnens, der Ernährung oder Hygiene.7

Karten und Pläne sind zwar keine neuzeitliche Erfindung, sie wurden aber als Regierungstechniken nutzbar gemacht und unterlagen dabei einer zunehmenden Systematisierung in Form von Abstrahierung und Normierung. Auch spielten sie eine wesentliche Rolle für die Kolonisation.8 Zudem gingen Karten eine Verbindung mit Statistik ein, wenn etwa im frühen 19. Jahrhundert damit begonnen wurde, Warenströme zu verzeichnen. Statistik selbst wiederum ist als Teil der verwaltungstechnischen Bevölkerungswissenschaft ein biopolitisches Instrument und war im Zuge einer so genannten „Eingeborenenpolitik“#A9 ebenfalls eine grundlegende Technik der Kolonisierung. So stellt der Historiker Jürgen Zimmerer in seiner Studie über die Rolle der Bürokratie bei der Kolonisierung fest, dass „[d]ieser Vorgang kolonialer Entrechtung und Unterdrückung […] in Namibia in einem Tempo ab[lief], das nur durch die Wirksamkeit des bürokratischen Verwaltungsstaates zu erklären ist.“10

Die Zunahme der Verwaltung geht mit einer Neukonzeption des zu regierenden und des regierenden Subjekts einher. Seit dem 18. Jahrhundert wird in und mit Mengen gerechnet: verwaltungstechnische Regulierung wird zur Regierungsform. Dadurch ändert sich auch die Bestimmung des Subjekts der Geschichte. Im 18. Jahrhundert geht die Ära der Könige und „großen“ Männer als Subjekte der Geschichte zu Ende.11 Im späten 19. Jahrhundert wird in den aufkommenden Sozial- und Geschichtswissenschaften entsprechend diskutiert, wer oder was an deren Stelle getreten sei. Die Antwort lautete: die Masse oder die anonyme Menge. Die Erfindung der Statistik brachte es mit sich, dass Menschenmengen mittels geometrischer Zeichen zu einer funktionalen oder verwaltungstechnischen Einheit zusammengefasst werden konnten. In den Tableaux von Dierk Schmidt sind es gefüllte graue, transparente konturierte oder halbierte Dreiecke, die den Rechtsstatus der an der Kongokonferenz beteiligten und ausgeschlossenen Akteure markieren, die somit einer funktionalen Abstraktion unterliegen. Diese war Teil der formaltechnischen Bedingung für die Aufteilung Afrikas im Sinne einer juridisch begründeten Rechtmäßigkeit auf Aneignung sowie den darauf folgenden Prozess der Kolonisierung. Jene Zeichensprachen haben wiederum selbst ihren Ursprung im zuerst von Ökonomen und Ingenieuren verfolgten Bestreben, der „Mathematisierung der Welt“ – und damit der Abstraktheit rein numerischer Information – mit mehr Anschaulichkeit zu begegnen. Seit dem 18. Jahrhundert werden solche Daten in übersichtlichere Formen übersetzt.12

Gegenseitige Bedingungen von Abstraktionsprozessen und Regierungsfunktionen sowie staatliche Selbstermächtigung werden in der Bildserie Schmidts verhandelt, die an zwei Ereignissen der deutschen Geschichte ansetzt: zum einen die fast vollständige Kolonialisierung Afrikas, für die die Berliner Afrika-Konferenz von 1884/5 einen Wegstein markiert, zum anderen die 2001 von der Herero People’s Reparations Corporation (HPRC) eingereichten Klage auf Entschädigung für den an ihnen und den Nama begangenen Völkermord zwischen 1904 und 1907. Die Bildserie verhandelt die Darstellbarkeit dieser (historischen) Momente – im Rahmen der verwaltungstechnischen wie auch juristischen Bedingungen, die diese Handlungen ermöglichten – ebenso wie die Darstellungsmodi, die Ausdruck dieser Bedingungen sind.

Tableaux Graphiques und Historienmalerei

Lassen sich aber Geschichtsdarstellungen und funktionale Abstraktion überhaupt verbinden? Oder werden Bilder, die in der Sprache der funktionalen Abstraktion verbleiben, nicht vielmehr zu Komplizen der Prozesse, die sie verhandeln, zumal gerade statistische Diagramme eine reibungslose Rationalität und objektive Faktizität zu verbürgen scheinen? Die Unvereinbarkeit von Statistik und Geschichtswissenschaft ist Thema in Jacques Rancières „Die Namen der Geschichte“, in dem der Philosoph die Verführung der Geschichtswissenschaft durch die Statistik kritisiert. Rancière arbeitet in diesem Buch einen Paradigmenwechsel heraus, in dessen Rahmen die diagrammatischen Bildsprachen der Moderne und ihre aktuellen künstlerischen Wiederaufnahmen und Umarbeitungen zu diskutieren sind.

Rancière bezieht sich ebenfalls auf die Zeit um 1900 und wendet sich gegen den von ihm „obskur“ genannten Philosophen Louis Bourdeau, der 1888 in seinem Buch „L’Histoire et les historiens“ (Die Historie und die Historiker) auf der Suche nach einer wissenschaftlichen Begründbarkeit der Geschichtsschreibung die These der anonymen Menge vertritt. Rancières Einwand richtet sich dabei nicht gegen die Konzeption eines neuen historischen Subjekts, zumal Bourdeau in seinem Buch vehement die Sache der Demokratie verficht. Vielmehr wendet sich Rancière gegen Bourdeaus Vorschlag, wie dieses neue Subjekt zu fassen sei, nämlich im Sinne der neuen Wissenschaftlichkeit und Objektivität, am besten in der „Sprache der Zahlen und Funktionen“. „Die Wissenschaft der menschlichen Tatsachen“, so Bourdeau über die Geschichtswissenschaft, „die so lange deskriptiv und literarisch war, ist dazu berufen, quantitativ zu werden. Die Funktionsphänomene, der Hauptgegenstand ihrer Untersuchung, lassen sich in der Tat in den beiden Arten der Größenbestimmung messen, arithmetisch und geometrisch. Zum einen kann man sie in Zahlen übersetzen [d.h. Statistiken, S.L.], zum anderen durch graphische Darstellungen (Diagramme und Kartogramme) veranschaulichen, in denen in eindrucksvollen Bildern, die für eine universelle Sprache stehen, lange Reihen von Tatsachen zusammengefasst sind, deren Schwankungen, Beziehungen und Gesetze klar zutage treten.“13

Um diesen Paradigmenwechsel, seine Bedeutung für die Kunst und ihren Fragen nach Darstellbarkeit komplexer Ereignisse nachvollziehbar sowie Rancières Kritik verständlicher zu machen, sei letztere etwas ausführlicher skizziert. Rancière bestreitet, dass mit den neuen Visualisierungstechniken Geschichte überhaupt noch darstellbar sei. Denn wenn, wie von Bourdeau behauptet, Geschichtsschreibung nicht mehr deskriptiv und literarisch, sondern nur noch arithmetisch und geometrisch verfahren kann, schafft sie sich nach Rancière selber ab. Einer der Gründe dafür ist, dass in Mengendarstellungen unkenntlich wird, ob es sich um Subjekte oder Objekte, um Migrationsströme oder um Exportkohle handelt. Solche Darstellungen entbehren demnach ein wesentliches Merkmal der Geschichtsschreibung, nämlich „Namen und Ereignisse miteinander zu verschränken“.14 Stattdessen beruht die Darstellung quantifizierbarer Daten auf einer funktionalen Abstraktion, die seit der Erfindung der Statistik im 17. Jahrhundert und deren Visualisierungstechniken seit ca. 1800 zunehmend zu einer Regierungstechnik wird.15 Visualisierungen, die qua quantifizierbarer Mengenlehre auf dem Ideal der wissenschaftlichen Objektivität beruhen16, erfassen im Zuge der Verwissenschaftlichung neu gegründete universitäre Disziplinen, jenseits der ohnehin auf Berechnung basierenden Statistik und Ökonomie. Sie ergreifen auch die Geschichtsschreibung und nehmen damit einen Wechsel von der Erzählung hin zur Veranschaulichung vor.

Charles Joseph Minard, Tableaux Graphiques et Cartes Figuratives de M. Minard, 1845-1869

Eine Graphik aus dem 19. Jahrhundert demonstriert diesen Wechsel geradezu paradigmatisch. Die „thematische Karte“ oder „carte figurative“, wie ihr Erfinder sie nannte, wurde 1869 von dem französischen Ingenieur Charles Joseph Minard17 erstellt und zeigt Napoleons Russlandfeldzug von 1812-13. Sie repräsentiert nicht mehr den Triumph oder das Leiden einzelner großer Männer – sie weckt weder Emotionen, noch lassen sich (zwischen)menschliche Beziehungen erkennen –, sondern veranschaulicht lediglich Größenverhältnisse: die abnehmende Truppenstärke auf dem Weg nach und von Moskau, den von 423.000 Soldaten nur 10.000 überlebten. Der Graph, der in seiner West-Ost-Ausrichtung an kartographische Konventionen angelehnt ist, wird zu einem zweiten Graph ins Verhältnis gesetzt, der die Temperaturen angibt, so dass Todesziffern und Gradangaben in einen Kausalzusammenhang treten, der auf einen Faktor reduziert ist. Solche Verkürzungen produzieren eine Evidenz, die Minard folgendermaßen legitimiert: „Die große Ausweitung, die heutzutage die statistische Wissenschaft erfährt, ließ die Notwendigkeit spürbar werden, ihre Resultate in weniger rigiden, nützlicheren und eine schnellere Auswertung ermöglichenden Formen als Zahlen zu verzeichnen [….]“.18
Man muss sich nur die Bilder der Historienmalerei vergegenwärtigen, ihren Modus der Repräsentation, die Heroik und emotionale Tragik des dargestellten Moments und des Figurenpersonals, um zu sehen, warum die diagrammatikalische Form einen radikalen Bruch in der visuellen Darstellung historischer Ereignisse bedeutete. Zwar wurden diese neuen Mittel innerhalb der Kunst zunächst nicht wahrgenommen, da statistische Visualisierungen in anderen gesellschaftlichen (Wissens-)Bereichen entwickelt wurden, die sich mit der Kunst nicht berührten. Die Konkurrenz zur Geschichtserzählung aber wurde schon bald offensichtlich, wie ein Kommentar von Étienne Jules Marey, dem Erfinder der Chronophotographie und zahlreicher Apparaturen zur Aufzeichnung von Bewegung, belegt. Die Karte Minards, so Marey 1878, würde den Stift des Historikers durch ihre brutale Eloquenz herausfordern.19 Die Eloquenz beruht dabei auf der Evidenz der Darstellungen, einer für das Auge „unmittelbaren Zugänglichkeit“.20 Die Tableaux graphiques antworten auf die Forderung der Statistik und Bürokratie, dass die Daten auf einen Blick zu erfassen seien. Diesen paradigmatischen Wechsel der Darstellungskonvention befindet Rancière als fatal. Denn wer die Geschichte auffordern würde, die trügerische Sprache der Historie durch die Gewissheit der Mathematik zu ersetzen, fordere sie auf, „schmerzlos zu sterben“.

„Trügerisch“ ist dabei für Rancière positiv konnotiert und meint die notwendige Ungewissheit jeden Wissens.21 Sein Plädoyer für Wissen und gegen Gewissheit fällt deshalb so vehement aus, da mit Wissen auch immer die Frage verbunden ist, wer und mit welchen Mitteln dieses überhaupt produziert, während Gewissheit bereits den Status von Wahrheit beansprucht. Wissen aber könne es, so Rancière weiter, ohne Ausdruckskraft, ohne das Bewusstsein von unterschiedlichen Darstellungs- und Verknüpfungsformen, die Möglichkeit des Einschreibens und Umschreibens, von Interpretationsmodi und Kontingenzen überhaupt nicht geben. Daher wendet er sich gegen den modernen Traum einer rein faktualen Historiographie, „die Lektionen der Geographie, der Statistik und der Demographie beherzigt“ hat und sich so vor dem „Gerede der öffentlichen Meinung und den Einfällen der Literaturen“22 schützen wollte. Genau dies führe dazu, dass Geschichte droht, reine Mengenlehre und vergleichende Soziologie zu werden. Entsprechend hält Rancière sowohl die Erzählung hoch, als auch ein wie auch immer geartetes Subjekt der Geschichte, dem ein bestimmter Status, unterschiedliche Affekte und Ereignisse und nicht zuletzt Verantwortung zugeschrieben werden können. „Wer auch immer sich vom traditionellen Subjekt der Geschichte und den Möglichkeiten der Bewahrheitung, die von ihrer Sichtbarkeit abhängen, löst, betritt einen Boden, wo der Sinn dessen, was ein Subjekt oder Ereignis bedeuten kann, verunklart wird – und nicht nur die Bedeutung des Subjekts oder des Ereignisses, sondern auch die Weise, wie man sich auf dieses Subjekt beziehen kann oder welche Schlussfolgerung aus diesem Ereignis gezogen wird.“23 Und nochmals apodiktischer: „Man muss Subjekte benennen, und man muss ihnen einen Status, Affekte, Ereignisse zuordnen.“24 Neben der Möglichkeit Verantwortung zuschreiben zu können, geht es dabei auch um Fragen der Bewahrheitung, um Zeugenschaft.

Mit Rancières Invektive stellt sich die Frage, wie sich künstlerische Praktiken zu Geschichte verhalten, wenn sie genau jene Darstellungsmodi bedienen, die diese eigentlich abzuschaffen drohen. Wie verknüpft Schmidt in seinen Bildern Subjekte mit Ereignissen? Wie wird in künstlerischen Arbeiten mit diesem modernistischen Paradigmenwechsel hin zu Mengenlehre, Diagrammen und Karten umgegangen? Setzen aktuelle künstlerische Ansätze des Kartographierens bei „jenen Taxonomien, Bedeutungs- und Zeichensystemen an, durch die Wissen hervorgebracht wird“25? Fragen die Bilder Schmidts anhand solcher Zeichensysteme nach den damit ermöglichten Regierungstechniken und Handlungsformen, wozu auch die juristische Ebene zählt? Dieser Punkt wird relevant, wenn man bedenkt, dass Schmidt mit seinen ästhetischen Konstruktionen die rechtlichen und verwaltungstechnischen Bedingungen der Aufteilung Afrikas sowie der Entschädigungsklagen zu visualisieren versucht, die auf juridischen und funktionalen Abstraktionen beruhen – womit Schmidt an vorangegangene Serien anknüpft, in denen er sich mit der Darstellbarkeit eines (Zeit-)Geschichtsbildes beschäftigte.26

Das kartographische Imaginäre

Wie aber lässt sich Geschichte erzählen, wenn an die Stelle von Subjekten Verwaltungsakte getreten sind? Ist diese Ersetzung bereits ein Effekt der Bürokratie, Entscheidungen so weit zu anonymisieren, dass den Ereignissen keine Subjekte mehr zugeordnet werden können? Was können dann die Bilder Schmidts leisten, wenn nicht nur das System zu reproduzieren? Dies zu beantworten wird möglich, wenn man die Bilder mit einer der bekanntesten Reproduktion der Berliner Afrika-Konferenz vergleicht.27 Die Reproduktion aus einer damaligen Zeitung zeigt das historische Ereignis der Konferenz im Modus der Repräsentation: Einen Raum, in dem die individuellen Akteure der Geschichte dargestellt sind, Delegierte von dreizehn europäischen Nationen sowie der USA. Die reproduzierten Stiche zeigen, wie die damals nagelneue, von Heinrich Kiepert entworfene Karte Afrikas die Ausstattung des Raums definiert, was auch in vielen Zeitungsartikeln dieser Zeit besonders hervorgehoben wurde: „Im Konferenzsaal selbst erinnert zunächst eine große, an die 5 Meter hohe Karte Afrikas von Kiepert an die nächsten Zwecke, welche diese glänzende Versammlung hier zusammengeführt haben.“28 Karten waren nicht nur das wesentliche Mittel, um die „Zwecke“ der Konferenz zu veranschaulichen – nämlich eine Einigung über die mehrfach erhobenen Ansprüche auf das Kongobecken zu erzielen. Sie spielten auch aufgrund ihrer symbolischen Bedeutung für Nationalismus und Patriotismus eine wesentliche Rolle, da sie das Begehren nach Kolonien überhaupt erst weckten.29 Nicht zuletzt schaffte der Abstraktionsgrad der Karten, für das Territorium selbst genommen, einen spezifischen Handlungsraum: Während der Afrika-Konferenz, so der Historiker Ronald Robinson, „steckten die Teilnehmer die Karte ab – eine theoretische Übung auf einem Kontinent, der bis dato nicht in dieser Form der Anschaulichkeit existierte. Eine spekulative Teilung kostet wenig auf diplomatischem Papier und kein ernsthaftes koloniales Anheizen war erforderlich, um diesen Prozess zu aktivieren.“30 Eine solche Enteignung beziehungsweise Aneignung mittels Kartographie sollte sich auf dem Gebiet des späteren Namibias in der Frage der Landverteilung wiederholen. Mehrere „Besitzstandskarten“ im Namibianischen Nationalarchiv lassen die so gut wie restlose Einteilung des Landes in Zonen erkennen, die bis heute gültig sind, beruhend auf einem Akt der Enteignung von zuvor gemeinsam genutztem Land. 31

Die Kongokonferenz in Berlin, Original drawing by Adalbert von Rößler. Üeber Land und Meer, 1885 (detail)

Der historische Stich repräsentiert ein Ereignis, den Akt der Einteilung. Er lässt mit seiner Repräsentation der Karte Afrikas den Anteil der imaginären Verfügbarkeit über einen angeblich leeren Kontinent erahnen, der dem Kolonisierungsprozess zu Grunde lag. Er lässt aber weder erkennen, dass der Aushandlungsprozess über Monate dauerte, noch auf welchen abstrakten Operationen und formellen, rechtlichen Bedingungen die Kolonisierung beruht, wie er auch insgesamt andere Subjektpositionen nicht einbezieht.32 Zu diesen abstrakten Prozessen gehörte die Konzeption eines geographischen Terrains als bloße Verhandlungsmasse ebenso wie die Festlegung der legitimen und die Ausgrenzung der illegitimen Verhandlungspartner, wie auch die Deklaration des territorialen Status Afrikas zu einer terra nullius, die damit zur Aneignung und Aufteilung frei steht.

Schmidts Bilder zeigen – im Unterschied zum Stich – jene politischen und juridischen Verhandlungsräume ohne die Ausschmückungen der Repräsentation. Er bleibt mit den Grundrissen, Plänen und Karten beim minimalistischen Modus der regierungstechnischen Funktion. Die sonst so unterschiedlichen Räume sind durch dieselbe Farbigkeit miteinander verbunden: Das Reichskanzlerpalais, Ort der so genannten Afrika-Konferenz, ist wie das Kongobecken auf eine plane, orangefarbene Fläche reduziert. Orange ist auch der Umriss des Festplatzes sowie die in der Mitte liegende Grundfläche eines Wellblechhauses. An diesem Ort, ein quasi exterritorialer Raum, tagt jährlich eine Art inoffizielles Parlament der Herero – im Gedenken an den Krieg, den die Herero als souveräne Macht geführt hatten, aber auch in Gedenken an die Toten des Völkermords und der Nachkriegsherrschaft.33 Mitglieder der Herero-Gesellschaft haben auch die Entschädigungsklage gegen die deutsche Regierung angestrengt.

Mit der homogenen Farbgebung benutzt Schmidt ein in der Kartographie gängiges Verfahren, über die Kolorierung von Flächen einen ästhetischen und damit inhaltlichen Zusammenhang zwischen disparaten Gebieten zu schaffen, zwischen Kontinenten, Sprachen, Zeitzonen, Kulturen, Geschichten, Topografien und sozialen Organisationsformen.34 Diese Abstraktion von allen anderen möglichen Eigenschaften der Orte und die Profilierung einer einzigen könnte man als die ästhetische Seite der Bürokratie bezeichnen, die unterschiedlichste Räume vereinheitlicht und funktionalisiert. So sind die nach anderen Kategorien unvereinbaren Orte – Festplatz und Kommandohaus, Reichskanzlei (Palais Radziwill) und das Kongobecken – in der Bildserie durch die einheitliche Farbe Orange als politisch und juridisch zusammenhängend im Hinblick auf den Kolonialismus in Namibia und den Genozid markiert. Dadurch aber sind sie auch als Verhandlungsräume gekennzeichnet, in die Akte des Widerstands eingetragen sind.

 

Dierk Schmidt: Tableau 2, Conférence de Berlin

Dierk Schmidt: (detail1) The ceremonial (ritual) of diplomatic receptions—greetings on the perron, in this case by Bismarck.

Dierk Schmidt: (detail2) “Group photo” of the conference participants in front of the 5-metre high map of Africa, drawn up by Richard Kiepert on the occasion of the conference.

 

Strukturen der Macht

Stellt man den bildlichen Modus der Schmidtschen Tableaux in einen historischen Rahmen, so lässt dieser sehen, wie mit dem Wechsel der Akteure der Macht auch eine Veränderung der Darstellungsformen einher geht. Fand der Modus der Repräsentation, wie der Kunsthistoriker und Zeichentheoretiker Louis Marin gezeigt hatte, mit dem Spiel von An- und Abwesenheit seinen paradigmatischen Ort im absolutistischen Königsporträt,35 wären dann diagrammatische Darstellungen für moderne und aktuelle Herrschaftstechniken adäquat? Einen ersten Antwortversuch geliefert zu haben, ist das Verdienst von Mark Lombardi. Der Kurator Robert Hobbs profiliert ihn sicher nicht zu unrecht als denjenigen, der mit seinen Bildern versucht hat, die Tradition der Historienmalerei neu zu definieren, eben im Hinblick auf andere Akteure der Macht: „he intended to update history painting in terms of theories of globalism and rhizomic schematizations of power.“36 Mit seinen gezeichneten Verbindungen zwischen Banken, Konzernen und Regierungen bleibt Lombardi einigen Prinzipien der Historienmalerei treu, selbst wenn er bildlich auf struktureller Ebene argumentiert.

Da sich Lombardi, wie er selbst sagte, für die Strukturen und Mechanismen, für die Gebräuche und Missbräuche der Macht innerhalb der globalen politischen Ökonomie interessierte und sich Banken zum Studienobjekt wählte,37 sind seine Zeichnungen auch eher Entwurfspläne für eine (un)mögliche Erzählung.

Expliziter als Schmidt stellt Lombardi seine Bilder in eine Tradition der Historienmalerei. Sie würden genau die Dimensionen, das Dramatische und auch die Monumentalität besitzen, die man eher mit Schlachtengemälden oder der Darstellung anderer bedeutsamer historischer Ereignisse verbinden würde.#A38 Die Darstellungsmittel für historische Finanzskandale stammen allerdings nicht aus dem Feld der Malerei, sondern stehen – wie die Bildsprachen Schmidts – in der Tradition der tableaux graphiques oder cartes figuratives, die Ökonomen mit der Kartierung von Warenströmen anwandten. Hobbs nennt sowohl Informationsgraphiken aus dem Time Magazine über den Finanzskandal um die amerikanische Bank B.C.C.I., als auch Eisenbahn- und Flugpläne aus Edward Tuftes Klassiker der Informationsgraphik Envisioning Information (1990) als mögliche ästhetische Vorbilder für Lombardis Strukturierungs- und Ästhetisierungsmaßnahmen – Pläne, die aus Verbindungen zwischen Knotenpunkten innerhalb internationaler Netzwerke bestehen.39 Lombardi stellt also die historischen Ereignisse der Finanzskandale zu einer ihrer der Bedingung der Möglichkeit dar: Die internationale Vernetzung der Banken als diagrammartige Netzwerkstruktur, die er zusätzlich dramatisiert und rhythmisiert.

Mark Lombardi, “Luchaire, Allivane and the Euro-Explosives Cartel c. 1980-9”, 2000 (courtesy of Pierogi)



Eine andere Ästhetik der Verwaltung

Schmidts und Lombardis Unternehmungen, per diagrammatischen Strukturen Geschichtsbilder zu produzieren, die auf funktionalen Abstraktionen und strukturellen Machtformen beruhen, sind auf eine spezifische Ästhetik beziehbar, die Benjamin Buchloh „aesthetics of administration“ nannte.40 Buchloh rekurriert auf eine Anzahl von Arbeiten der Conceptual Art, denen er im Produktionsmodus legalistische Verfahren attestiert. Am deutlichsten ist dies im Fall von Robert Morris, der in seiner Arbeit „Document (Statement of Aesthetic Withdrawal)“ von 1963 per notariell beglaubigten Akt einem Bild seinen ästhetischen Wert entzog. Morris wollte im Anschluss an das Prinzip des Readymade das Kunstwerk als „ultimate subject of a legal definition and the result of institutional validation“41 begreifen und es jenseits jeglicher Visualität lokalisieren. Eine weitere Arbeit, auf die Buchloh sich bezieht, ist Mel Bochners antiästhetische Ausstellung „Working Drawings and Other Visible Things on Paper Not Necessarily Meant to Be Viewed as Art“ von 1966, bei der von Bochner eingeladene Künstler/innen nur Skizzen, Pläne, Tabellen, Diagramme und Berechnungen einsandten, die in Form von Fotokopien in Ordnern auslagen – also abgeheftete Dokumente der Selbstverwaltung in zumeist tabellarischer Form. Mit „aesthetic of administration“ meinte Buchloh die von ihm durchaus ambivalent eingeschätzte Anpassung der Konzeptkunst an die Verwaltungsbürokratie seit den 1950er Jahren, sowohl im Hinblick auf das Aussehen der Werke als auch in den durch sie vollzogenen performativen Akten. Als Vorläufer nennt er Marcel Duchamp, der die „introduction of legalistic language and an administrative style of the material presentation of the artistic object“#A42 vorweg genommen und damit eine Erosion des Vertrauens in die Autonomie ästhetischer Erfahrung befördert habe. Über die Reichweite und den Begriff einer Ästhetik der Verwaltung zu diskutieren, würde sich an anderer Stelle lohnen; zumal Buchloh Theodor W. Adornos Diktum einer „total verwalteten Welt“ unterschreibt und diese der Nachkriegszeit attestiert, obwohl die Frage nach dem Verhältnis von Verwaltungsstaat und Subjektivität, wie Vogl in „Kalkül und Leidenschaft“ gezeigt hat, viel weiter zurück reicht als in die 1950er Jahre und selbst neue Formen der Verhandlung geschaffen hat. Wie aber adressieren nun die Bilder Schmidts eine solche Ästhetik oder schreiben sich in eine solche ein oder diese um?

Wechselt man von der Conceptual Art zu Schmidt, so stellt man fest, dass es Schmidt gerade nicht um einen Entzug von Sichtbarkeit geht oder darum, den künstlerischen Akt durch einen performativ-legalistischen zu ersetzen. Nicht nur bedient das Tafelbild ein sehr klassisches Format; auch schlagen sich auf den Tafeln Formen von Sichtbarkeit nieder – verwaltungstechnische und juridische Abstraktionen –, die gerade in ihrer Funktionalität als Macht strukturierendes Element unsichtbar geblieben waren. Es geht also um Visualisierung und Materialisierung von Abstraktion. Dies wird nicht zuletzt sichtbar in der Weise, wie Buchstaben und Formen auf die Bildflächen in Schmidts Serie aufgetragen sind – sie wirken reliefartig, wie durch eine Schablone gepresst, darin aber willkürliche Fäden ziehend und in unterschiedlichen Formen und Dichtestufen eine jeweils eigene materielle Rhetorik entfaltend.

Demonstrierte die Conceptual Art, dass Kunst ein Machtraum und kein Geschmacksraum ist, benutzt Schmidt die Kunstinstitution, um Machtstrukturen und Handlungsräume zu thematisieren. So werden nicht mehr nur die Bedingungen von Sichtbarkeit oder die eigene Medialität reflektiert, sondern auch, welche Praktiken und Regierungstechniken durch moderne Abstraktionsprozesse und Darstellungsmodi möglich wurden: Sei es die Homogenisierung von Räumen als rein funktionale oder das Markieren von Territorien im imaginären Raum der Kartenprojektion. Dabei festzustellen, dass die eigene Bildsprache ihre Wurzeln genau in dieser Moderne sowie in einer funktionalen Einteilung von Feldern und Disziplinen und ihren jeweiligen Zuständigkeiten hat, gehört zu jener Archäologie der Moderne, die Künstler/innen und Kurator/innen seit einiger Zeit zu schreiben versuchen.43

Dierk Schmidt: Wieczorek-Zeul le 14 août 2004 à Okakarara. 

Die Frage, die hier zur Debatte steht – ob Geschichte und Subjekte im entsubjektivierenden Modus der Statistik und funktionalen Abstraktion überhaupt noch in einem Verhältnis stehen – geht über eine bildsprachliche Reflexion hinaus. Rancière forderte, Ereignisse mit Subjekten zu verknüpfen. Bei Schmidt begegnet man zunächst – in der Machart der Bilder – einer Zurücknahme des künstlerischen Subjekts hinter die spezifische Form der Abstraktion. Damit demonstrieren die Bilder zunächst, dass die Bürokratie Subjekte als Instanz nicht anerkennt, da diese zur Verwaltungsmasse werden. Allerdings gibt es innerhalb der Serie auch Brüche; die Arten der Abstraktion sind weder homogen noch wird diese als einzige Darstellungsmöglichkeit vorgeführt. Teil der Serie ist auch ein kleines, auf dünne Folie gemaltes, sehr zaus und zerweintes Porträt von Heidemarie Wieczoreck-Zeul, Ministerin für Entwicklung und Zusammenarbeit. Wieczoreck-Zeul hat 2004 die jahrzehntelang ausgebliebene Entschuldigung für den Völkermord vorgebracht, diese allerdings so formuliert, dass sie mögliche juristische Konsequenzen, die daraus abgeleitet werden könnten, verhinderte. Halbabstrakt hingegen ist jene Tafel, auf der der zu Anfang erwähnte Brief geschrieben steht. Dieser Brief wurde von dem Namachief Hendrik Witbooi an einen in Walfishbai anwesenden Gouverneur der Briten verfasst, die selbst acht Jahre zuvor Teilnehmer an der Berliner Afrika-Konferenz waren. Witbooi artikuliert hier seine große Enttäuschung darüber, dass die deutschen Kolonisatoren sich nicht mehr gemäß jener Übereinkünfte verhalten würden, die es ihnen erlaubt hatten, ins Land zu kommen. Er schließt mit der Bitte an den britischen Gouverneur, die Deutschen vom Territorium der Nama zu entfernen. Er spricht als Rechtssubjekt – ein Status, den die Kolonisatoren ihm verweigerten. Abstrakte und figürliche Darstellungen sind auch in den Bildern zur Oturupa-Bewegung verbunden, die ebenfalls eine Instanz der Selbstbehauptung eines politischen Subjekts aufgreifen und damit eines Status’, der ihnen von den Deutschen durch die Kolonisierung und im Anschluss daran von der Südafrikanischen Regierung verwehrt wurde. Auf dem Bild Schmidts sind vor der Aufsicht auf das Gebäude des inoffiziellen „Herero-Parlaments“ per Fußspuren die Schrittfolgen jener Zeremonie aufgebracht, in der sich diese politische Instanz in einem performativen Akt immer wieder neu konstituiert und damit einen Raum der Anerkennung und des Rechts markiert. Zwar sind die Akteure anonymisiert, aber die Schuhsohlen symbolisieren hier Einzelne, keine Mengen. Die Markierungen stellen eine Aktivität dar, eine Behauptung und Markierung von „Raum“ – im konkreten wie abstrakten Sinne –, der sich für die Betrachter/innen anhand der Schritte nachvollziehen lässt.
Entsprechend sind all jene vornehmlich weißen Bilder den vorwiegend orangefarbenen und mit Dreiecken versehenen gegenüber gestellt. Das Bild über die gerichtliche Klage ist ebenfalls halbabstrakt gehalten. Der Darstellungsmodus der Serie wechselt also innerhalb des Rahmens der Abstraktion, je nachdem welches Subjekt mit welchem politischen Status die Stelle des Handelnden im Bild besetzt.

Die Bildserie hebt damit Kategorien wie Abstraktion oder Konkretion auf. In der Serie werden jene Orte aufgesucht, wo das abstrakte Denken wirksam wird – in machtpolitischer Hinsicht, aber auch als Form des Widerstands oder Rückaneignung. So geht es um die Installierung und Öffnung eines Verhandlungsraums, der gleichermaßen juridisch, performativ und ästhetisch ist. Dass die Arbeit als künstlerische dabei immer auch auf die Subjektivität ihres Produzenten verweist, könnte angesichts des komplexen Themas als Unverhältnismäßigkeit gedeutet werden. Andererseits gewährleistet die als subjektiv markierte Position etwas, was Rancière bereits forderte: Subjekte mit Ereignissen – in diesem Falle – wieder miteinander zur verknüpfen; und zwar nicht die historischen, sondern die aktuellen, die nicht nur die Produzent/innen einschließt, sondern auch die Betrachter/innen der Bilder.

Rancière schlägt natürlich nicht vor, zur Geschichte der „großen Männer“ zurück zu kehren, sondern zu überlegen, was der Übergang von der „Geschichte der Ereignisse zur Geschichte der Strukturen“44 impliziert. Er hob als Modell die Chronik „Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.“45 von Fernand Braudel hervor, da dieser mit dem Mittelmeer ein neues geeignetes Subjekt der Geschichte gefunden habe; eines, das nicht den Geograph/innen, sondern den Historiker/innen zugeschrieben wird, „entlang allen Wegen, auf denen sich die Tätigkeit des Menschen konstituiert und ausbreitet, eine Tätigkeit, die das Mittelmeer ebenso schafft, wie dieses durch sie geschaffen wird“, und weiter, die „Einheit eines Systems und eines Netzes von Tätigkeiten“46, das diesen Raum prägt. Ein Gedanke daraus kann man auf die Bilder Dierk Schmidts übertragen: „Die Teilung der Erde“ versucht kein einheitliches System zu schaffen, aber die Geschichte von der Berliner Afrika-Konferenz bis heute bildet einen Raum, der durch spezifische Handlungen geschaffen wird. Über die funktionale Abstraktion der Bilder treten die unterschiedlichen Markierungen von Räumen – zum Beispiel der Plan der Oturupa-Zeremonie und ihrer Festlichkeit und die Karte des Kongo-Becken – in einen Zusammenhang, überlagern sich und werden so in einen Zustand des Widerstreits gesetzt. Dies ist eine von Schmidt eher nüchtern behandelte Ansicht der Ansprüche seitens der Herero und Nama wie der gleichzeitigen traurigen Fatalität, da die Geschichte der Selbstbestimmung mit der Geschichte des Völkermords verbunden bleibt. Die abstrakte Fläche der Malerei mit ihrer funktionalen Bildlichkeit eröffnet einen symbolischen Verhandlungsraum, der aufgrund der historischen Ereignisse und der radikal anderen Erinnerungs- und Erfahrungshorizonte auf unvereinbaren Positionen basiert. Diese Unvereinbarkeit bleibt trotz eines politischen Prozesses der Versöhnung bestehen. Die funktionale Abstraktion, wie sie hier als Bildsprache eingesetzt wird, steht nicht nur für eine Regierungstechnik der strukturellen Gewalt, sondern verweist auch auf die Möglichkeit, Verhandlungsräume offen zu halten, ohne in die humanitaristische Falle einer Wiedergutmachungserzählung zu fallen.

 

Dierk Schmidt: Tableau 11, Oturupa, Okanhandja 2006

Dierk Schmidt: (detail 1) The odangere, a traditional priest, has the Herero-oturupa line up in a marching formation and welcomes them. The Chiefs at okuruuo, the holy fire, are protected by parasols. The oturupa is meant to be depicted as an autonomous organisational form positioning itself against genocidal extermination. 

Dierk Schmidt: (detail 2) The greeting ritual includes the odangere, spitting with hallowed water. 

Dierk Schmidt: (detail 3) The dabates on issues of the Herero at the commando house here as an “unofficial parliament”. 

 

Anmerkungen:

1 So lautet die Unterüberschrift des Kapitels 7 aus Ian Hacking, The Taming of Chance, Cambridge 1990.
2 Vgl. zu einer Diskussion um Abstraktion den Beitrag von Helmut Draxler in diesem Band, dem ich hiermit gleichzeitig für produktive Gespräche danke. Zu einer Ausdifferenzierung künstlerischer Abstraktion vgl. auch die Ausgabe „Abstraktion“ von #KTexte zur Kunst#K, Heft 69, März 2008; spezifischer zur wissenschaftsgeschichtlichen Herleitung vgl. z.B. Aux origines de l’abstraction, 1800–1914, Ausst. Kat. Paris: Musée d’Orsay 2003/04.
3 Zu den einzelnen Künstler/innen vgl. etwa: Alice Creischer, Andreas Siekmann, „Politischer Konstruktivismus“, in: Texte zur Kunst, Heft 69, März 2008, S. 124-128; Brian Holmes, Cartography of Excess (Bureau d’études, Multiplicity):
https://www.metamute.org/en/node/6243; Ashley Hunt: https://aworldmap.com; Florian Pumhösl, Animated Map, Köln 2007, beide zuletzt eingesehen am 05.02.2009.
4 Vgl. Hacking, The Taming of Chance, a.a.O., über die Anwendungsgebiete der Statistik.
5 Vgl. dazu Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002; vgl. auch Wolfgang Schäffner, „Nicht-Wissen um 1800. Buchführung und Statistik“, in: Joseph Vogl (Hrsg.), Poetologien des Wissens, München 1999, S. 123-144 sowie Rüdiger Campe, „Wahrscheinliche Geschichte. Poetologische Kategorie und mathematische Funktion“, in: ebd., S. 209-230.
6 Ebd.
7 Vgl. z.B. Nader Vossoughian, Otto Neurath, The Language of the Global Polis, Rotterdam 2007.
8 Vgl. am Beispiel Lateinamerikas Walter Mignolo, The Darker Side of Renaissance. Literacy, Territoriality, and Colonization, Ann Arbor 1995.
9 Der Historiker Jürgen Zimmerer benennt den Kolonialismus als „Eingeborenenpolitik“, was die biopolitische Dimension des Kolonialismus verdeutlicht. „Unter Eingeborenenpolitik werden dabei alle Maßnahmen verstanden, die der koloniale Staat traf, um sein Verhältnis zur kolonisierten Bevölkerung zu regeln, sowie die von ihm erlassenen Vorschriften zum Umgang der weißen mit der ortsansässigen afrikanischen Bevölkerung.“ Jürgen Zimmerer, „Deutsche Herrschaft über Afrikaner. Staatlicher Machtanspruch und Wirklichkeit im kolonialen Namibia“, Münster 20043 (Europa – Übersee Bd. 10), S. 1. Zu Kolonialismus und Biopolitik vgl. auch die Aufsätze von Christian Geulen, „‚The Final Frontier …‘. Heimat, Nation und Kolonie um 1900. Carl Peters“ und Birthe Kundrus, „Von Windhoek nach Nürnberg? Koloniale ‚Mischehenverbote‘ und die nationalsozialistische Rassengesetzgebung“, in: dies. (Hrsg.), Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt / Main, New York 2003, S. 35–55 und S. 110–134.
10 Zimmerer, „Deutsche Herrschaft“, a.a.O., S. 1.
11 Vgl. dazu Werner Busch, Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München 1993.
12 Als „Erfinder“ solcher Visualisierungen gilt der schottische Ökonom William Playfair, u.a. mit seinem Buch: The Commercial and Political Atlas. Representing, by Means of Stained Copper-Plate Charts, the Progress of the Commerce, Revenues, Expenditure and Debts of England during the Whole of the Eighteenth Century (London 1786). Vgl. zu Playfair und die Folgen: Edward Tufte, The Visual Display of Quantitative Information, Cheshire, Conn. 2002.
13 Louis Bourdeau, L’Histoire et les historiens, Paris 1888, S. 291 f., zit. nach Jacques Rancière, Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens, Frankfurt / Main 1994, S. 13.
14 Rancière, Die Namen der Geschichte, a.a.O., S. 15.
15 Vgl. Vogl, Kalkül und Leidenschaft, a.a.O.
16 Vgl. zum wesentlichen Anteil von Interpretation in jeder „objektiven Darstellung“: Lorraine Daston, Peter Galison, Objektivität, Frankfurt / Main 2007, oder: Peter Galison, Caroline A. Jones, Picturing Science, Producing Art, New York 1998.
17 Mit vollständigem Titel: „Carte figurative des pertes successives en hommes de l’Armée Française dans la campagne de Russie 1812–13.“ Vgl. Arthur Robinson: „The Thematic Maps of Charles Joseph Minard“, in: Imago Mundi 21, 1969, S. 95–108.
18 Vollständiges Zitat: „La grande extension donnée de nos jours aux recherches statistiques a fait sentir le besoin d’en consigner les résultats sous des formes moins arides, plus utiles et d’une exploration plus rapide que les chiffres […].“ Charles Joseph Minard, Des tableaux graphiques et des carte figuratives, Paris 1862, S. 1.
19 Étienne Jules Marey, La méthode graphique dans les sciences expérimentales, Paris 1878, S. 73.
20 „Le principe dominant qui caractérise mes tableaux graphiques et mes cartes figuratives est de faire apprécier immédiatemet par l’œil, autant que possible, les proportions des résultats numériques.“ Minard, Des Tableaux graphiques, a.a.O., S. 2.
21 Vgl. Rancière, Die Namen der Geschichte, a.a.O., S. 14.
22 Ebd., S. 8.
23 Ebd., S. 9.
24 Ebd., S. 8.
25 Astrid Wege, „Bewegung durch nicht befestigtes Gelände“, in: Nina Möntmann/Yilmaz Dziewior (Hrsg.), Mapping a city, Galerie für Landschaftskunst, Ausst. Buch, Kunstverein Hamburg, Ostfildern-Ruit 2003, S. 130–137.
26 Vgl. hierzu v.a. Dierk Schmidt, SIEV-X. Zu einem Fall von verschärfter Flüchtlingspolitik, Berlin 2006.
27 Diese Abbildung war auf einer Pinnwand zu sehen, die im Ausstellungsraum der Universität Lüneburg in einem zweiten Raum stand, in dem unter anderem Material zur Afrika-Konferenz versammelt war.
28 Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 538, Berlin, 15. November 1884, Abendausgabe, S. 1.
29 John Noyes, Colonial Space. Spatiality in the Discourse of German South West Africa 184-1915, Chur 1992 und Russel Berman, Enlightenment or Empire. Colonial Discourse in German Culture, Lincoln/London 1998.
30 Ronald Robinson, „The Conference in Berlin and the Future of Africa, 1884–1885“, in: Stig Föster, Walter J. Mommsen, Ronald Robinson (Hrsg.), Bismarck, Europe, and Africa. The Berlin Africa Conference 1884-1885 and the Onset of Partition, Oxford 1988, S. 1-32, hier: S. 19.
31 Vgl. den Beitrag von Karen Kappmeyer in diesem Band: „Anmerkungen zum Kartenmaterial“, S. XXX.
32 V.a. die völkerrechtliche Anerkennung von Kolonialbesitz (und die dortige Umstellung von „Stützpunktkolonie“ auf „Beherrschungskolonie“).
33 Vgl. den Beitrag von Usiel Kandjii in diesem Band. Zu dem Oturupa-Ritual vgl. auch Larissa Förster, „Zwischen Parodie und Subversion. Die Oturupa der Herero und die deutsche Militär Kultur“, in: Eva Leitolf, Rostock Ritz. 23 Fotografien. Mit Texten von Uwe Timm, Larissa Förster, Brigitta Schmidt-Lauber, Manasse Veseevete und Eva Leitolf. Herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem Forum Goethe-Institut und dem Kulturreferat der Stadt München, Köln 2004.
34 Vgl. zum Einsatz von Farben sowie die ideologischen Implikationen von Karten und ihren Projektionsformen u.a. Denis Wood, John Fels, The Power of Maps, New York u.a. 1992.
35 Vgl. Louis Marin, Das Porträt des Königs. Das Absolute der Macht im Bild, a.d. Franz. von Heinz Jatho (orig.: Le portrait du roi, 1981), Berlin 2005.
36 Robert Hobbs, Mark Lombardi. Global Networks, New York 2003, S. 13.
37 Mark Lombardi, unpublished notes aus den 1990er Jahren, in: Mark Lombardi Archiv der Pierogi Gallery, Brooklyn, New York: „I am interested in the structure, mechanisms, uses and abuses of power in the global political economy.“ Zit. nach Hobbs, Mark Lombardi, a.a.O., S. 19.
38 Um das Zitat etwas ausführlicher wiederzugeben: „It has all the weep and expanse, the drama and monumentality one might ordinarily associate with battle paintings or depictions of other significant historical events.“ Mark Lombardi, „Self-interview“, unpublished notes, ca. 1995, Mark Lombardi archives at Pierogi Gallery, Brooklyn, New York, zit. nach Hobbs, Mark Lombardi, a.a.O., S. 14.
39 Vgl. Hobbs, Mark Lombardi, a.a.O., S. 42 und S. 44 f.
40 Benjamin Buchloh, „Conceptual Art 1962-1969. From the Aesthetics of Administration to the Critique of Institutions“, in: October 55 (Winter 1990), S. 105-143.
41 Ebd., S. 119: „Just as the readymade had negated not only figurative representation, authenticity, and authorship while introducing repetition and the series (i.e, the law of industrial production) to replace the studio aesthetic of the handcrafted original, Conceptual Art came to displace even that image of the mass-produced object and its aestheticized forms in Pop Art, replacing an aesthetic of industrial production and consumption with an aesthetic of administration and legal organization and institutional validation.“
42 Ebd., S. 118.
43 Vgl. etwa Sabeth Buchmann, „Abstrakte Charaktere. Referenz und Formalismus in den Arbeiten von Florian Pumhösl“, in: Texte zur Kunst, Heft 69, März 2008, S. 98-111; zu den Verwicklungen der Moderne in den Kolonialismus vgl. die Ausstellung „In der Wüste der Moderne. Koloniale Planung und danach“, Haus der Kulturen der Welt, Berlin 2008 (Ein Buch zur Ausstellung ist in Vorbereitung).
44 Rancière, Die Namen der Geschichte, a.a.O., S. 38.
45 Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 4. korrigierte Auflage, übersetzt von Grete Osterwald und Günter Seibt, Frankfurt / Main 1990.
46 Rancière, Die Namen der Geschichte, a.a.O., S. 115 und S. 116.

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