Alexander Roob]
[March 13, 2011
Vom Kadaver des Vaters der Überstaatlichkeit – Eine weitere Lesart von Lintons “Cetewayo und Dekan Stanley”- Dialog
Lintoniana V
„Nie hat der Leichnam eines Helden auf dem Schlachtfeld (…) solche Gefühle ausgelöst wie diese strikte Schlichtheit zu jener Stunde, in der das Prinzip der Utilität über die Einbildungskraft und das Herz triumphierte.“ (The Monthly Repository, 1832)
Was hatte Linton eigentlich damit gemeint, als er den besiegten Zulu – Häuptling am Ende seines Dialogstückes Cetewayo und Dekan Stanley ausrufen ließ: „Aber steckt mich nicht in eure Abtei, Herr Dekan! zusammen mit diesem Jungen(…)!“? Warum sprach Cetewayo hier von sich selbst und vom Prince Imperial, wo es doch eigentlich um ihre Denkmäler ging? Wollte der Autor damit bloß eine verkürzende sprachliche Unbeholfenheit zum Ausdruck zu bringen oder vielleicht eher einen naiven Animismus, der das skulpturale Simulacrum mit dem Original verwechselt, Ähnlichkeit mit Identität? Und die Abtei? Ging es Lintons Cetewayo vor allem darum, die Westminster Abbey zu meiden als einen spezifischen Ort der Inkohärenz, in dem „gebührende“ und „ungebührende Ehrungen“ vermischt werden – er als ein ernsthafter Verteidiger seiner Nation Seite an Seite mit einem leichtsinnigen Abenteuer, der das Töten „zu seinem Privatvergnügen“ betreibt – oder nahm er in ihr den „Haupttempel“ einer kriegerischen Imperialreligion wahr, die verantwortlich war für die Unterjochung seines Volkes?
Aufschluss gibt ein Essay von Walter Savage Landor, aus dem Linton bereits in dem einleitenden Motto zu seinem Stück zitiert hatte.1 In Sir Robert Peel and Monuments to Public Men machte Landor sich Gedanken über adaequate Möglichkeiten „den großen Honoratioren unseres Landes zu gedenken.“ Er plädiert darin für eine grundlegende Unterscheidung in Berühmtheiten des öffentlich- politischen sowie des kulturellen Lebens und für eine entsprechende Zuteilung des öffentlichen Raums. Die Innenräume, “die Vorhallen und unsere Büchereien sind aufs beste geziert durch Poeten, Philosophen, und Philantropen“; Höher als diese Kulturelite sei aber die politische Kaste zu bewerten, vorrangig die Militärs, die „Verteidiger ihres Landes“ und dann die Legislative, die „Verfechter des Gesetzes“. Der höhere Status, den diese Personen einnehmen, ist Landor zufolge entsprechend im öffentlichen Außenraum repräsentiert, „in den Straßen, in den Plätzen,“ dem klassischen Ort der res publica. Dort nämlich sei der Ort wo die „Spaziergänger- und Versammlungsmenschen“ auf die Eigentümer von Namen treffen, die sie zwar ständig auf der Zunge führten, die ihnen aber kaum vertraut seien, obgleich sie mit ihnen durch eine Regung, die Loyalität genannt werde, verbunden seien; durch dieses „unmäßige und intolerante Gefühl, das nach den Ausdünstungen von Mahlzeiten und Wein und Trinksprüchen riecht, das ihre Bäuche anschwellen läßt und ihre Stimmen, die dann widerhallen von den Namen aus der Tagespresse.“
Landor´s Denkmalkonzeption war weniger idealistischer Huldigungskult als vielmehr eine utilitaristische Lehrveranstaltung, die den urbanen Raum in einen dreidimensionalen Geschichtsatlas transformierte. Dementsprechend sollten die Skulpturen auch am besten wie in einem didaktischen Themenpark in Reihungen angeordnet sein. Ausgeschlossen von dieser Repräsentanz seien allerdings die Theologen, da deren Bilder nur dogmatischen Zwist erregen würden. Ebenso käme die Aufstellung von weltlichen Denkmälern im sakralen Bereich einer Verunstaltung und Schändung gleich. In seiner Zurückweisung von Westminster Abbey als einem Ort säkularen Andenkens stimmt Linton´s König der Zulu in diese Konzeption von Landor ein.
Cetewayo folgt allerdings noch einem ganz anderen Argumentationsstrang, der den Nutzen des anglikanischen Gottesdienstes an sich in Frage stellt. Der Sinn eines spezialisierten Staatspriestertums, das seine Gottesdienste nur periodisch zu bestimmten Uhrzeiten abhält, will ihm nicht einleuchten. Diesen regulären verabredeten Gottesdiensten (services) hält er einen „richtigen“ Dienst entgegen, den seine Männer an dem „schönen Jungen,“ dem Prince Imperial vollzogen haben. „He was rightly served by my men“ ließe sich unverdächtig etwa so übersetzen: Es geschah ihm recht, wie Cetewayo´s Männer ihn behandelt haben. Tatsächlich war bekannt, dass die Art und Weise, wie die Zulu-Krieger mit Louis Napoleon verfahren waren, auch einen rituellen Aspekt hatte. Wie beispielsweise die New York Times in Berufung auf die englische Tagespresse am 3. Juli 1879 vermeldete, hatten die Zulukrieger die Körper aller Toten „auf Grund eines abergläubischen Kriegszaubers“ auf dem Schlachtfeld ausgeweidet. Auch der Leichnam des Prince Imperial war nicht verschont worden und sei zum tiefen Schmerz seiner Mutter „ergriffen worden von den frevelhaften und verstümmelnden Händen der Wilden, die ihn ermordet hatten.“ Die Angabe, dass die Leichen teilweise auch skalpiert worden seien, war wohl eine spezifische Phantasie der amerikanischen Presse, um die Emotionen noch weiter anzuheizen. Auf Linton hatte dieser Kurzschluss des britischen Zulukriegs mit dem Genozid an den Nordamerikanischen Ureinwohnern sicherlich eine geradezu gegenteilige Wirkung und hat ihn auch möglicherweise im fernen Connecticut zur Abfassung des Dialogstücks inspiriert.
Die meisten Erzeugnisse seiner amerikanischen Privatpresse waren mit spezifischen Anspielungen an einen relativ kleinen Kreis adressiert, das Cetewayo und Dekan Stanley-Stück natürlich vor allem an seinen Londoner Bekannten. Die Anspielung auf den „rechtens“ (rightly) ausgeweideten Corpus des Prinzen musste dort, zumal sie in Verbindung mit dem Denkmalkult stand, unweigerlich Assoziationen wachrufen an eine feierliche öffentliche Sezierung an deren Ausgang die Entstehung einer Memorialskulptur stand. Obgleich diese Zeremonie fast dreißig Jahre zuvor stattgefunden hatte, muss die Erinnerung daran in Linton´s Bekanntenkreis gerade zum Zeitpunkt der Abfassung des Stückes sehr präsent gewesen sein, denn es hatte sich dabei um nichts Geringeres gehandelt als eine informelle Gründungsakte der säkularen Bewegung, die eben zu dieser Zeit mit publikumswirksamen Aktionen auftrat und Gegenstand heftigster Kontroversen war.
Der Leichnam, der dieser Prozedur einer präparatorischen Ausweidung unterzogen worden war gehörte Jeremy Bentham, dem wichtigsten philosophischen Repräsentanten des frühen britischen Radikalismus und fundamentalsten Kritiker von Kolonialismus und Anglikanimus im 19. Jahrhundert.2 Für den gleich alten Goethe markierten die Gedankengänge des Begründers des Utilitarismus den „Gipfel der Tollheit“3 und selbst ein Kommentator wie William Hazlitt, der ihm politisch gesonnen war, kritisierte ihn ob seines „barbarischen philosophischen Jargons“ und wunderte sich, dass dieser noch nicht „strafrechtlich belangt worden ist wegen der Kühnheit und der Schärfe einiger seiner Beschimpfungen“. 4
W. J. Linton: Portrait of Jeremy Bentham. The Reasoner, 1848.
Der Benthamismus wird gern als Ausdruck einer klein karierten puritanischen Händlerethik genommen, die sich philosophisch in einer reinen Kosten – Nutzenabwägung ergeht. Es heißt dies aber die Sprengkraft zu verkennen, die Bentham´s Philosophie vor allem in England entfaltet hat und die gerade darin bestand, dass er die puritanische Ethik durch den dezidiert hedonistischen Ansatz seines „Greatest Happiness“ – Prinzips verunsichert und herausgefordert hatte. Aber auch der Vorwurf, einen uneingeschränkten „schweinischen“ Egoismus zu propagieren griff ins Leere, da sich für ihn in gesamtgesellschaftlicher Perspektive aus dem Prinzip der Glücklichkeitsmaximierung zwingend ein Zusammenfall von Eigeninteresse mit einem Dienst an der Gemeinschaft, der „duty,“ ergab. Der frühe inkonsistente Benthamismus war im Gegensatz zu späteren Auslegungen sowohl individualistisch als auch kommunitär ausgerichtet. Er kann als ein offener Versuch gelten, ein vitales gesellschaftliches Regelwerk zu schaffen, das sich weder auf die Autorität von Konventionen noch von überweltlichen Entitäten gründen wollte.
Der junge Linton muss der ausgestopften Leiche von Bentham häufig bei den Diners in der Wohnung seines väterlichen Freundes und Hausarztes Thomas Southwood Smith begegnet sein, wo der Tote eingekleidet in seine Alltagsmontur in einem Glaskasten saß und dort für jedermann zu besichtigen war, „der Interesse an den Schriften und dem Charakter von Jeremy Bentham hatte.“5 Southwood Smith war einer der engsten Vertrauten des barbarischen Philosophen gewesen war. 1824 hatte der engagierte Mediziner in seiner Schrift über den Nutzen der Toten für die Lebendigen (“The Use of the Dead to the Living”) für eine Freigabe von Körperspenden für anatomische Zwecke plädiert und Bentham hatte in radikalster Vorführung seiner utilitaristischen Prinzipien nicht nur den eigenen Corpus zur Verfügung gestellt, sondern auch testamentarisch bestimmt, dass dieser in „der Art der Neuseeländer“ präpariert wird, um ihn “zum Zwecke der Erinnerung“ zu erhalten. Die öffentliche Sezierung samt Leichenrede war, wie Zeugen berichten, von Southwood Smith selbst „mit einem Gesicht so weiß wie das den toten Philosophen vor ihm“ in der aufgeladenen Atmosphäre eines plötzlich hereinbrechenden Gewitters vorgenommen worden.6
Das Ergebis der Mumifizierung von Bentham´s Kopf war nicht ganz zur Zufriedenheit von Southwood Smith ausgefallen.
Unverdienterweise wird der Name von Southwood Smith heute fast nur mehr im Zusammenhang mit der Ausführung dieser bizarren Verfügung seines philosophischen Lehrers in Verbindung gebracht. Dabei handelt es sich bei dem Mediziner um eine Gestalt von bemerkenswerter Komplexität, die durch ihre sanitärreformerischen Pionierleistungen in die Sozialgeschichte des frühen 19. Jhds eingegangen ist und durch ihre moraltheologischen Schriften auf die Dichtung der Hochromantik eingewirkt hat. Zu seinem unitarischen Predigeramt, das er viele Jahre lang ausgeführt hatte, war der durch William Blake ermuntert worden. Die Einheit von Mystik, wissenschaftlicher Faktizität und sozialem Engagement, die er verkörperte, spielte eine nicht unwesentliche Rolle beim Paradigmenwechsel von Poesie zu Prosa als frühviktorianischem Leitmedium, der Anfang der dreißiger Jahre eingeleitet worden war.
Nur wenige Jahre nach Bentham´s Tod und dessen Überführung in eine Memorialskulptur hatte sich Southwood Smith als eine zentrale Bezugsfigur in einem Kreis von jungen Dichtern, Philosophen und Künstlern etabliert, der sich regelmäßig im Haus seines engen Freundes, des unitarischen Dissenters William Johnson Fox in Craven Hill Gardens in London traf, darunter Robert Browning, Eliza Flowers, Margaret Gillies, Richard Hengist Horne, Douglas Jerrold, Harriet Martineau, John Stuart Mill, Harriet Taylor, Thomas Wade, Egerton Webbe sowie der angehende Xylograph und Dichter William James Linton.7 In ihrem Grundlagenwerk zur viktorianischen Poesie bezeichnet die Literaturhistorikerin Isobel Armstrong diesen Kreis um Fox und Southwood Smith, „der mit Erneuerungen in politischer, theologischer und ästhetischer Hinsicht experimentierte“ als die früheste erkennbare Avantgarde – Gruppierung in Großbritannien neben den Cambridge Apostles um Tennyson.8 Das zentrale Organ dieser Gruppierung, die von dem Zeitgenossen James Martineau als „free-thinking and free-living clique“ bezeichnet worden war, ist das von Fox editierte Literaturmagazin The Monthly Repository gewesen, das auch eine zentrale Rolle spielte in der Etablierung der frühen Arbeiterdichtung als einer ernst zu nehmenden Literaturgattung. Der Herausgeber, so Armstrong, formte mit seinem Blatt eine „Utilitaristische, Benthamitische Ästhetik. (…) Seine Version des Benthamismus bedeutete vor allem die Ausbreitung von Freude im weitesten Sinn, die Demokratisierung von Literatur und die Erforschung der Anknüpfungspunkte zwischen Literatur und Politik.“ Neben Bentham´s radikalem Skeptizismus, der in der Lage war, einen fremde „barbarische“ Perspektive auf gesellschaftliche Zusammenhänge zu werfen, war es vor allem Percy Bysshe Shelley´s blasphemisch – interventionistische Poesie, die prägend auf den Craven Hill– Kreis eingewirkt hat. Die explosive Mischung aus atheistischem und klassenkämpferischem Gedankengut hat der Säkularistenbewegung, die Mitte der sechziger Jahre institutionalisiert wurde, den Boden bereitet.9
Bentham´s Anhängerschaft vermied es dessen Mumifizierung in aller Öffentlichkeit auszubreiten und zu diskutieren. Im Monthly Repository waren zwar längere Auszüge aus Southwood Smith´ Leichenrede abgedruckt gewesen, und auch der Akt der Sezierung selbst war erwähnt, über die zweite testamentarische Verfügung wurde allerdings kein Wort verloren. Schließlich wollte man nicht in den Verruf einer neu-heidnischen Sekte kommen, die sich in blasphemischer Verkehrung christlicher Mythen um den ausgestopften Kadaver ihres Meisters schart, der dazu noch in der Manier von steinzeitlichen Wilden präpariert worden war. Allerdings kann man davon ausgehen, dass die meisten Künstler des Craven Hill- Kreises über Southwood Smith und Bentham´s Meisterschüler John Stuart Mill mit allen Einzelheiten dieser spektakulären Angelegenheit vertraut waren. Dazu zählten sicherlich auch die detaillierten Vorschläge zu einer Revolutionierung der Denkmalkultur, die Bentham in diesem Zusammenhang unterbreitet hatte. Er hatte sie zwar erst kurz vor seinem Tod in einem unpublizierten Manuskript niedergelegt,10 doch muss ihn dieser Vorstellungskomplex schon eine ganze Weile beschäftigt haben; schließlich hatte er die Glasaugen, die dazu bestimmt waren, einst seinem mumifizierten Schädel einen lebendigen Ausdruck zu verleihen, zwanzig lange Jahre mit sich in seiner Westentasche geführt.
Jacques Talrich: Wachskopf von Bentham. Der künstliche Ersatz war von Southwood Smith in Auftrag gegeben worden. (Quelle: C. F. A. Marmoy, The ‘Auto-Icon’ Of Jeremy Bentham at University College, London)
Der menschliche Leichnam war nach Bentham´s Auffassung gesellschaftlich von zweifachem Nutzen, von einem „anatomisch, oder zerlegerischen, “sowie von einem „konservatorisch-statuarischen“ Wert. Letzterer wird von ihm mit der Begrifflichkeit des Auto-Icon, der Selbst-Ikone belegt. Diese Körperplastiken würden „die Notwendigkeit von Skulptur erübrigen,“ denn es sei schließlich evident, dass „Identität der Ähnlichkeit“ vorzuziehen sei. In Bentham´s Zukunftsvision, die ganz ohne die mimetischen Dienste der Kunst auskommt, bevölkern die Auto-Ikonen nicht nur die öffentlichen Gebäude und die privaten Ahnengalerien, sondern auch, nachdem sie durch eine Kautuschimprägnierung wetterfest gemacht worden sind, den Außenraum, die Parks und Alleen. Nicht ausgeführt von ihm wird die Konsequenz seiner verspielt und launisch daher kommenden Vorschläge, die allerdings auf der Hand liegt und in einer radikalen Egalisierung und Demokratisierung des von feudalen Mustern geprägten Denkmalkults liegt, also desjenigen kulturellen Segments, das den ideologischen Fonds abgab für ein in Bentham´s Augen verengtes und irrationales Nationalverständnis.
Linton´s Cetewayo kommt teilweise daher wie ein Widergänger von Bentham. Ausgestattet mit einer entwaffnenden praktischen Intelligenz, die Bentham als „savage ingenuity“ bezeichnet hatte, als „wilden Scharfsinn“, stellt er die Fundamente der anglikanischen Staatskirche in Frage,11 um am Ende dann abrupt seinen Austritt zu erklären, nicht nur aus der ideologischen Vereinnahmung einer heuchlerischen doppelbödigen Imperialreligion sondern auch aus der chaotischen Ambivalenz des historistischen Ahnenkults. Der kategorische Schluss bringt aber auch sehr deutlich die Aversion des Reproduktionsgrafikers Linton vor der mechanisierten Logik des Benthamismus zum Ausdruck, die der mimetischen Differenz keinen Spielraum mehr lässt. Letzten Endes ist es die Auflösung dieser Differenz in einer automatisierten Ikone, vor der Cetewayo hier zurückschreckt, und zwar zur gleichen Zeit, als sein Autor in einen Grundsatzstreit mit dem fotografischen Hyperrealismus der jungen amerikanischen Xylographie verwickelt war. Linton´s Cetewayo ist Bentham, was die kolonialpolitische Perspektive betrifft. Was die ethische und ästhetische Perspektive anbelangt ist er Anti-Bentham.
Es gibt kaum ein vergleichbares Dokument, das die Ambivalenz des britischen Radikalismus zu ihrem utilitaristischen Fundament so suggestiv und pointiert zum Ausdruck bringt wie dieses unauffällige Dialogstück. In seinen frühen Publikationen hatte Linton dem Benthamismus noch einen breiten Raum eingeräumt.12 Die spröde Doktrin von der Nutzensmaximierung, auch wenn sie hedonistisch grundiert war, hatte seinem idealistischen Altruismus allerdings von Anfang an wenig entsprochen. In Fox war ihm eine Figur begegnet, die er später als den “eigentlichen Begründer einer neuen Schule des Englischen Radikalismus“ bezeichnete, einer Anschauung, „die über die etablierten Traditionen der Französischen Revolution hinausblickte, oder etwas poetischer ausgedrückt, die der Beengtheit des Utilitarismus enkommen war.“13 Ab Mitte der vierziger Jahre tauschte Linton wie viele andere Weggefährten den spirituellen Benthamismus von Fox gegen einen theologisch grundierten Nationalismus Mazzini´scher Prägung ein, der den demokratischen Freiheitsbewegungen in Europa Ausdruck verlieh. Evident war allerdings, dass Mazzini´s Vision eines republikanischen Europa und seine Gründung einer People´s International League mit beiden Beinen auf Bentham´s Arbeit an einer Gesetzgebung der Zwischenstaatlichkeit fußte, eines Zustand, den dieser mit einer eigenen Wortschöpfung belegt hatte, der Internationalität. Und ob schließlich Linton´s anthropomorphe Vision einer Universalen Republik, die er 1869 in seinem zentralen politischern Traktat The Religion of Organization dargelegt hatte, nicht einem Nachbild vom Kadaver des Vaters der Überstaatlichkeit nachhing, sei dahingestellt. Hatte nicht Bentham seine Vorstellung von kommunitarer Verantwortung mit dem Akt seiner Sezierung sozusagen organisch manifest gemacht und mit seiner Mumifizierung auch ein eindrückliches Exempel statuiert, das dazu geeignet war, seinen höchst abstrakten atomistischen Theorien körperliche Präsenz zu verleihen?
Bentham´s Auto-Ikone in der originalen Vitrine mit dem Wachskopf oben und dem Mumienkopf unten, so wie sie von Southwood Smith arrangiert worden war. (Source: C. F. A. Marmoy, The ‘Auto-Icon’ Of Jeremy Bentham at University College, London)
Der innere Zusammenhang zwischen Bentham´s Auto-Ikonismus und Walter Savage Landor´s postmortalen Konversationsstücken, in deren Nachfolge Linton´s Cetewayo und Dekan Stanley – Dialog abgefaßt war, ist auffällig. Über seinen jüngeren Bruder, den erfindungsreichen Militäringenieur Samuel Bentham, der mit Landor befreundet war, muss der Philosoph mit dem Genre der Imaginary Conversations vertraut gewesen sein. In ihrem 1987 erschienen medizinhistorischen Aufsatz Jeremy Bentham´s self image: an exemplary bequest for dissection stellten Ruth Richardson und Brian Hurwitz die Vermutung an, dass Bentham´s Idee von Dialogstückaufführungen mit mechanisch bewegten Auto-Ikonen verstorbener Gelehrter auf Landor´s erfolgreiches literarisches Vorbild zurückgeht.14 Die Stimmen der Toten15 sollten bei diesen Mumienspielen von Schauspielern gesprochen werden. Nicht ahnen konnte Bentham, dass sich seine Vision von einem Theater der Toten bis auf weiteres nur in einem flächigen Format photoikonischer Reproduktion realisieren ließ, im magischen Medium des Films.
1880, als Linton den Cetewayo und Dekan Stanley – Dialog veröffentlicht hatte, waren nur noch ganz wenige befreundete Mitglieder des Craven Hill – Kreises am Leben, genauer gesagt zwei: Richard Hengist Horne, der vielgestaltige Poet und Abenteurer, der 1844 ein literarisches Porträt von Southwood Smith veröffentlicht hatte, sowie die Miniaturmalerin Margaret Gillies, die nach Southwood Smith´ Umzug im Winter 1849 übergangsweise Bentham´s ausgestopften Leib beherbergt hatte, bevor dieser dann endgültig in die Sammlung des University College London eingegangen ist. Während seiner amerikanischen Emigrationszeit hatte es Linton allerdings zu Wege gebracht, in London einen erweiterten Kreis von Bekannten aufzubauen, den er mit dieser tagespolitischen Schrift adressieren konnte. Darunter waren junge Shelleyaner wie Henry Buxton Forman sowie etliche Gefolgsleute der sich gerade etablierenden Arts & Craft – Bewegung. Die meisten von ihnen waren Mitglieder oder Sympathisanten der Säkularen Bewegung, die sich auf Initiatve von Linton´s früherem politischen Weggefährten George Holyoake Mitte der fünfziger Jahre formiert hatte. Mittlerweile hatte sich Linton zwar in aller Unversöhnlichkeit mit Holyoake verkracht und warf dessen Kampagne einen fundamentalen Mangel an Vorstellungskraft vor; den Vorsitzenden der National Secular Society, den Sozialreformer Charles Bradlaugh bewunderte er jedoch vorbehaltlos ob seiner Zivilcourage und seines literarischen Spürsinns. Bradlaugh hatte sich mit dem schottischen Dichter James BV Thomson verbündet, der den „phantasielosen“ Atheismus in kraftvolle poetische Bilder einzukleiden wußte.
Titelblatt von George Holyoake´s weit verbreiteten Journal “The Reasoner”, in dem dieser sein System des Säkularismus entwickelte. Holyoake verwendete Linton´s Bentham-Darstellung auch als Titelvignette einer Reihe weiterer Publikationen zum Säkularismus und zur Kooperativ-Bewegung.
Als Linton seine Kritik an dem konfusen Repräsentationskonzept der Westmister Abbey verfasste, die Cetewayo als den „Haupttempel“ der englischen Staatskirche bezeichnet hatte, wurde in Leicester gerade unter großer öffentlicher Anteilnahme der erste Tempel des Atheismus seit den Zeiten der französischen Revolution errichtet. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Linton in dieses Projekt eines „Tempels der Gedankenfreiheit“ zwar nicht direkt involviert, aber zumindest doch über dessen Konzeption unterrichtet war. Schließlich war die Druckversion von Thomson´s Einweihungsgedicht Address on the Opening of the New Hall of the Leicester Secular Society March, 6th 1881 mit Hochdruckätzungen illustriert, die Linton achtzehn Jahre zuvor für Gilchrist´s Life of William Blake ausgeführt hatte.
Titelblatt von James BV Thomson´s “Address on the Opening of the New Hall of the Leicester Secular Society March, 6th 1881”, illustriert mit Kerographien von Linton nach Blake (MePri-Collection)
In der didaktischen Kohärenz ihres ikonografischen Programms waren die Erbauer der New Hall weitgehend im Einklang mit Walter Savage Landor´s Forderung nach einer Anordnung von Memorialskulpturen in logischen Folgen. Die fünf Terrakottabüsten in der Eingangsfassade – Sokrates, Jesus, Thomas Paine, Voltaire und Robert Owen – repräsentieren in beinahe chronologischer Abwicklung eine lehrreiche Genealogie der Gottlosigkeit. Dass man den historischen Jesus in diesen säkularen Kanon eingeschlossen hatte, war als eine gezielte Provokation der christlichen Orthodoxie zu verstehen, die einer langen Dissentertradition gefolgt war. Es war Linton´s zweite Frau, die Schriftstellerin Eliza Lynn, die 1871 in ihrem viktorianischen Bestseller The true History of Joshua Davidson – Christian and Communist den antinomistischen Mythos vom historischen Jesus als sozialrevolutionärem Übertreter der Gesetze auf spektakuläre Weise erneuert und in die düstere Gegenwart des Londoner East End versetzt hatte. Die Tatsache, dass Jeremy Bentham in dieser säkularen Memorialfolge fehlt, ist als ein Beleg für die gesunkene Reputation des Utilitarismus im radikalen Milieu zu werten. Durch eine verstärkt individualistische Auslegung war dieser mittlerweile auf eine reine Doktrin des Wirtschaftsliberalismus zurück geschnitten worden, eine Entwicklung, die der ideologischen Spaltung des Radikalismus Rechnung getragen hatte. Allerdings war mit der Büste von Robert Owen, des Begründers der frühsozialistischen Kooperativbewegung eine philanthropische Ausprägung des frühen Benthamismus vertreten. Der barbarische Philosoph selbst war in Owen´s Projekte durch finanzielle Teilhabe involviert gewesen.
Socrates, Jesus, Thomas Paine, Voltaire, Robert Owen: Die fünf Büsten von Ambrose Louis Vago an der Fassade der Leicester Secular Hall (Quelle: Website der Leicester Secular Society)
Hier war also eine konsistente Alternative zu den Tempeln des Staatschristentums im Bau, die den Kommunitarismus zelebrierte und die dem Imperialismus unter ihrem Dach konsequenterweise keinerlei sakrale Legitimierung mehr verschaffen wollte. Die Tagesaktualität von Linton´s kolonialkritischem Dialogstück ist auch vor diesem konkreten Hintergrund einer ekklesiastischen Inszenierung und Institutionalisierung des Säkularismus zu verstehen. Ob Cetewayo´s Kritik am Anglikanismus als eine uneingeschränkte Sympathieadresse an die Säkularisten zu verstehen ist, scheint allerdings zweifelhaft. Seine Ablehnung der Abtei als eine Lokalität seines Angedenkens, als Ort der Identifikation, lässt sich auch als eine Abkehr aus einer kulturellen Gesamtsituation verstehen, die in einem zivilisatorischen Bruch zwischen personalem und nationalem Heil besteht, zwischen Jesus und Joshua. Liest man das Stück im Kontext der politischen Schriften Linton´s, so kann der Ort von Cetewayo´s Repräsentanz weder der englische Tempel, noch der englische Park sein, sondern ein Gemeinwesen, das politische Verantwortung als spirituellen Dienst versteht, als Religion der Organisation, bzw. als transzendierten Benthamitischen Corpus.
Eine spirituelle Verkörperung der Weltrepublik. Eingangsvignette zu Linton´s “The Religion of Organization. An Essay read to Friends in Boston, 1869. New Haven 1892” (MePri-Collection)
Alexander Roob, Dezember 2010
Anmerkungen
1 enthalten in Landor´s spätem Sammelband The Last Fruit off an old Tree (1853)
2 Am entschiedensten trug Bentham seine antikolonialistische Argumentation in dem Traktat Emancipate your Colonies! vor, das 1830 in London erschien.
3 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, 1836
4 William Hazlitt: The Spirit of the Age or Contemporary Portraits, 1825
5 Richard Hengist Horne: A New Spirit of the Age. Vol I. 1844
6 The Monthly Repository No. 67, 1832 / Richard Hengist Horne: A New Spirit of the Age.1844
7 Zu W.J. Fox und dem Craven Hill – Kreis, siehe: Richard Garnett, The Life of W.J. Fox, Public Teacher & Reformer 1786-1864. London 1910 / Ann Blainey, The Farthing Poet. A Biography of Richard Hengist Horne, 1802 – 1884. London 1968 / Francis Barrymore Smith, Radical artisan, William James Linton, 1812-97. Manchester 1973
8 Isobel Armstrong: Victorian Poetry: Poetry, Poets and Politics. London 1993
9 Es war W.J. Fox, der den Begründer der Säkularistenbewegung George Holyoake 1842 gegen die Blasphemie-Anklage verteidigt hat.
10 Jeremy Bentham: Auto-icon; or, farther Uses of the Dead to the Living. A Fragment. Unpublished. Erst 1842 kam das Pamphlet in einem Privatdruck in einer Auflage von 20 Kopien in Umlauf. 2002 erschien, hrg. von James Crimmins, eine Faksimiledition unter dem Titel Jeremy Bentham’s Auto-Icon and Related Writings.
11 1824 hatte der Unitarier Bentham mit seiner Publikation The Church of England Catechism Examined die Glaubensgrundsätze der Anglikanischen Kirche in Frage gestellt.
12 Linton´s erstes Magazin The National. A Library for the People (1839) enthält etliche Exzerpte aus den Schriften von Bentham, Stuart Mill und Southwood Smith.
13 in: W.J. Linton, James Watson. A Memoir of the Days of the Fight for a Free Press in England and the Agitation for the People´s Charter. Manchester 1880
14 in: British Medical Journal. Vol. 295, 18 July 1987
15 The Voices of the Dead lautete auch der Titel von Lintons erstem Dialogstück.