Alexander Roob]
[June 3, 2010
Wider Daumier. Eine Revision der frühen französischen Karikaturbewegung und Sozialgrafik
L’imagination au pouvoir – Fantasie an die Macht (Charles Fourier)
Man hat es sich bequem eingerichtet mit Honoré Daumier. “Kaum je ist ein Künstler derart zum Inbegriff einer ganzen Kunstgattung geworden.“(1) schrieb Thomas Gaehtgens in einem 1979 erschienenen Beitrag über den französischen Zeichner und meinte damit das Genre der politischen Karikatur und der satirischen Sozialgrafik. Die Beobachtung trifft im Grossen und Ganzen noch immer zu. Auch heute fällt in der Regel zu dem weitläufigen Komplex der Karikaturgeschichte kaum mehr ein als eben diese eine Personalie; und nach wie vor jagt ein Daumier – Symposium das nächste, folgt ein Sammlungskatalog von Daumier – Grafiken auf den anderen; glaubt man doch in seinen Werken, von denen als gesichert gilt, dass sie hohe Kunst seien, eine Art archimedischen Punkt in dem haltlosen Gelände der Pressegrafik ausgemacht zu haben. Das Bild, das Roger Passeron in seiner ebenfalls 1979 erschienenen Biografie (2) von dem Künstler zeichnete, als einer Titangestalt, die mit ihrem schöpferischen Genius die Finsternis der Auftragsgrafik erhellt hat, mag im Tonfall mittlerweile überholt sein, aber in ihrem Tenor bleibt diese Eloge doch symptomatisch für die gesamte Richtung, die die Daumier – Rezeption seit dem Ausgang des 19. Jhds eingeschlagen hat.
Man möchte dem Zeit Lebens als sehr bescheiden und zurückhaltend geltenden Künstler, der zweifelsfrei einer der hervorragenden Pressegrafiker der Zeit war, die bizarre Apotheose, die ihm in den letzten Lebensjahren zuteil geworden ist, vergönnen, – wäre sie nicht mit einer völligen Verzerrung der genealogischen Entwicklungslinien der Karikaturgeschichte verbunden und würde diese groteske Monumentalisierung, die sein Werk erfahren hat, nicht das Verständnis für die Zusammenhänge zwischen den experimentellen Errungenschaften der Pressegrafik und den Spielarten der frühen künstlerischen Avantgarden blockieren.
„Eine Gabe hat Daumier gefehlt: Die Phantasie.“ Mit diesen Worten begründete im September 1861 sein Verleger Philipon die Entlassung des langjährigen Mitarbeiters. (Ob es sich dabei tatsächlich um eine Kündigung gehandelt hat, wie Baudelaire suggeriert hat, oder nicht vielmehr um eine freiwillige Demission des Zeichners, wie Philipon behauptet hat, ist nicht ganz klar. Tatsache ist, dass das negative Image Philipons in der Daumier-Rezeption vor allem vor allem auf der Annahme einer Entlassung basiert. Ein Jahr nach Philipons Tod wurde Daumier erneut im Le Charivari eingestellt). Das niederschmetternde Attest, das Philipon Daumier ausstellte, ist bei den Daumier – Biografen immer wieder auf Unverständnis, ja Empörung gestoßen. Man vermutete abwechselnd Neid, verletzte Eitelkeit und Rachsucht als Motiv. Tatsächlich aber benannte Philipon in dieser Stellungnahme, die er erst Monate nach der erfolgten Kündigung nachgereicht hat (3), das zentrale Problem, mit dem sich alle Versuche zur Kanonisation dieses Karikaturisten von Anfang an konfrontiert sahen: Dass paradoxerweise nämlich gerade dieser Künstler in puncto Erfindungsreichtum weit hinter den Möglichkeiten des Mediums zurückblieb, für das sein Name seit nunmehr eineinhalb Jahrhunderten stellvertretend steht.
Der Caricature – Soldat
Der einundzwanzigjährige Daumier wurde 1829 von Charles Philipon als jüngster Mitarbeiter des Unterhaltungsmagazins La Silouette gewonnen, an dem dieser als Redakteur und Mitherausgeber beteiligt war. La Silouette war das erste kontinentale Magazin, das kontinuierlich Karikaturen publizierte (4). Philipon war Journalist und Zeichner und übte dort anscheinend auch die Funktion eines Artdirectors aus. Er hatte bei Alexandre Abel de Pujol und Jean-Antoine Gros studiert, zwei klassizistischen Schlachtenmalern aus der David-Schule. Es war auch aus diesem Umfeld der napoleonischen Historienmalerei, aus dem er dann im Lauf der Zeit den Großteil der künstlerischen Belegschaft der von ihm initiierten Karikaturbewegung rekrutiert hat.(5)
Als das verborgene Hypozentrum dieser Bewegung, die in der Lage war, die Grundfeste der royalistischen Verfassungen der ersten Jahrhunderthälfte nachhaltig zu erschüttern, muss das Oberhaupt der klassizistischen Schule Jacques Louis David selbst gelten. Zu Zeiten der Jakobinerherrschaft hatte er die politische Karikatur gleichberechtigt neben der Malerei als ein Hauptinstrument zur Vermittlung der revolutionären Ideologie eingesetzt
Jacques- Louis David: Gouvernement Anglais, 1794
1793 und 94 fertigte der enge Freund von Robespierre und Marat im Auftrag des Wohlfahrtsausschusses eine Reihe hervorragender karikaturesker Propagandablätter in der Art von James Gillary an, die „in der Öffentlichkeit den Gemeingeist“ heben sollten.“ (6) Die Karikatur hatte also bereits schon zu Philipons Studienzeit in diesem spezifischen akademischen Umfeld eine Jahrzehnte währende Tradition hinter sich, in der sie sich innerhalb des restriktiven klassizistischen Formkanons nicht nur als eine Art exzentrischer Blitzableiter bewährt hatte.(7) Albert Boime hat auf die Verwandtschaft zwischen klassizistischer und karikaturesker Bildsprache in den bestimmenden Elementen der Linearität und der formalen Zuspitzung hingewiesen. (8) Auf einem Historiengemälde Davids lässt sich sogar das zentrale Bildmotiv auf eine Vorlage aus dem Reservoir der politischen Karikatur zurückführen.(9) Mit dem Sturz der Jakobinerherrschaft und dem Aufstieg des bourgeoisen Direktoriums, sowie der nachfolgenden napoleonischen Diktatur und der restaurierten Bourbonenherrschaft waren der politischen Karikatur allerdings klimatische Bedingungen beschert, unter denen sie in Frankreich nur im Gewand des Genre und der Modedarstellung überwintern konnte.
Künstlerischer Widerstand gegen das Restaurationsregime von Karl X. regte sich vor allem im Umkreis der Ateliers des Baron Gros, in dem das bonapartistische Sentiment in der Genredarstellung als zentrales Mittel der Subversion eingesetzt wurde. Es war Philipon, der dann im April 1830 mit einer unverhohlenen karikaturesken Attacke auf Karl X., die dank ihrer ungewohnten Platzierung im redaktionellen Teil der La Silouette von der Vorzensur unbemerkt geblieben war, die Büchse der Pandora revolutionärer Bildpublizistik erneut geöffnet hat. Anders als zu den jakobinischen Zeiten eröffneten sich nunmehr durch die Reproduktionstechnik der Lithografie ganz neue Möglichkeiten komplexe Bildkampagnen in Gang zu setzen und Philipon erwies sich in der Folgezeit als ein Meisterstratege der piktoralen Kriegsführung.(10)
Kurz nach der Julirevolution desselben Jahres, die die absolutistische Bourbonenherrschaft hinweggefegt und gegen eine sich anfänglich als liberal gerierende Monarchie des sogenannten Bürgerkönigs Louis Philippe ausgetauscht hatte, verließ Philipon wegen interner politischer Querelen zusammen mit einem Grossteil der künstlerischen Mitarbeiter die Redaktion von La Silouette und gründete zusammen mit seinem Schwager Aubert das Wochenmagazin La Caricature. Als Herausgeber konnte Philipon das Erscheinungsbild und die politische Linie des Blattes nun eigenverantwortlich bestimmen. Mehr noch als La Silhouette war La Caricature ein graphisch orientiertes Magazin, das sich an ein großbürgerliches Sammlerpublikum richtete. Die wenigen Textseiten waren den eingebundenen, oft handkolorierten Lithographien untergeordnet. Philipon liess seinen Starzeichnern – allen voran J.J. Grandville, Henry Monnier und Charles Joseph Traviés – einen breiten Gestaltungsspielraum, der es ihnen erlaubte, eigenen lithographische Reihen zu entwickeln. Bereits wenige Monate nach Gründung der Zeitung wurden die ersten Ausgaben beschlagnahmt und mit Geldbussen und Haftandrohungen belegt. Auslöser waren in beiden Fällen Karikaturen Philipons, die die Freiheitsversprechungen der neuen Monarchie als Luftblasen visualisieren und den Bürgerkönig in der Kluft eines Maurers beim Überputzen der Spuren der Julirevolution zeigten. (11)
Charles Philipon: Mousse de Juillet. 12.2.1831 (MePri-Collection)
Charles Philipon / Auguste Bouquet: Le Replâtrage. La Caricature, 30.6.1831 (MePri-Collection)
Der Schlagabtausch mit den Zensurbehörden erfolgte in immer schnellerem Wechsel und hatten zur Folge, dass sich La Caricature binnen kurzem von einer harmlosen Kulturpostille zu einem republikanischen Kampforgan entwickelte. Die militärische Natur der Philipon´schen Aktionen wurden von den Zeitgenossen vielfach registiert. William Thackeray bezeichnete die La Caricature– Mannschaft in seinem Paris Sketchbook von 1840 als „Monsieur Philipon´s little army“ bzw. als „Monsieur Philipon and his dauntless troop of malicious artists“.(12) Philipon stellte den Gang der Ereignisse später so dar, als sei ihm das sehr schnell legendär gewordene Dauerduell Philippe vs. Philipon von seinem Gegner aufgezwungen worden: „Ich hatte die Caricature einzig mit der Intention gegründet, daraus eine Kritik der Sitten zu machen, aber ein Prozeß, der einer von mir gezeichneten (…) Karikatur angehängt wurde, veranlasste mich, ihr eine politische Richtung zu geben.“(13)
Charles Philipon / Auguste Desperret: Philipon himself as the Caricature-jester fighting against the prosecution authority. La Caricature, 28.3.1833
Charles Joseph Traviès: La Mort-aux-Rats Politiques. La Caricature, 4.12.1834 (MePri-Collection)
Sowohl die Werbekampagnen als auch die Ankündigungen in der Startnummer der Zeitung belegen allerdings, dass Philipon von Anfang an geplant hatte, auch politische Themen zu behandeln. Ebenso deutet die Gemengelage von Künstlern und Redakteuren, die er um sich geschart hatte, kaum darauf hin, dass sich das Blatt auf gemütliche Genrekarikaturen spezialisieren wollte. Ideologisch war im Team der La Caricature nämlich das gesamte radikale und anti-bourgeoise Spektrum der Zeit vertreten, von Anhängern der protoanarchistischen und frühavantgardistischen Bewegungen des Fourierismus und Saint-Simonismus bis hin zu Parteigängern eines frühkommunistischen Egalitarismus. Ein Anhänger des Royalismus wie der junge Honoré Balzac (14) – er publizierte in der La Caricature unter vier verschiedenen Pseudonymen – und ein gemäßigter Liberaler wie Henry Monnier verließen das Blatt bereits im ersten Jahr, als sich eine Zuspitzung des Schlagabtauschs und ein strengerer republikanischer Kurs abzuzeichnen begannen.
Der künstlerische Aufbruch, der in La Caricature manifest wird ist weniger durch den Titel spendenden Terminus charakterisiert, als vielmehr durch einen Konnex dreier zentraler Begriffe, die für das renitente intellektuelle Klima in Frankreich nach der Julirevolution stehen: Bohème, Socialisme und Realisme. Bohemische Lebensweisen waren von einzelnen Künstlergruppen der David-Schule bereits in der bourgeoisen Endphase der Grossen Revolution praktiziert worden.(15) Nach dem Juliumsturz kam es jedoch zu einer massiven Entfremdung zwischen dem herrschenden Großbürgertum und breiten intellektuellen Zirkeln. „Alles ist in Wirbel geraten, in Frage gestellt. Paris kocht, im Herzen wie im Gehirn. An jeder Straßenecke begegnet man einer neuen Religion (…) Man lebte wie in einer heißen Dampfwolke.“(16) Der Neologismus Socialisme, unter dem sich eine Vielzahl von ideologischen Ansätzen subsumieren ließ – sie wurden von Friedrich Engels später alle als “utopisch” abgestraft – war 1831 von dem Saint-Simonisten Pierre Leroux ins Spiel gebracht worden. Zur gleichen Zeit wurde der literaturkritische Terminus Realisme von dem Kritiker Gustave Planche, einem engen Freund von Balzac und Philipon erstmalig auf Werke der bildenden Kunst angewandt. Jahrzehnte bevor sich Realisme als Haltung in der Malerei durchzusetzen begann, wurde er von Philipons Avantgarde unter der Flagge der Caricature praktiziert.
Sein Freund Nadar, der seit Anfang der vierziger Jahre für ihn als Redakteur und Karikaturist gearbeitet hatte, bezeichnete Philipon als „den großen Geist aus Lyon,“ der keine Angst kenne. Lyon war das Zentrum der französischen Seidenweberei, der Brennpunkt, an dem die sozialen Spannungen der frühen industriellen Revolution offen zu Tage traten. Hier fanden die ersten organisierten Arbeiterwiderstände in Frankeich statt. Ob Philipon wie Nadar selbst, wie Grandville und Travies, eine Zeit lang mit den Lehren des anderen ebenso mutigen wie närrischen Geists aus Lyon sympathisiert hat, mit Charles Fourier, ist nicht bekannt.(17) Fouriers Schriften, die zuerst in Lyon publiziert wurden und während Philipons Studentenzeit wirksam zu werden zu begannen, spannen in ihrer Verschränkung von bizarrer Phantastik, kreativem Spontanismus und scharfer Gesellschaftsanalyse genau den Bogen, der das Programm von La Caricature bestimmte. Für Philipons Freund Balazac war Fourier schlichtweg ein Blagueur, ein Spaßmacher und Witzbold. Nadar hielt ihn für einen inspirierten Schriftsteller und Friedrich Engels bezeichnete ihn in seinem Anti-Dühring als einen der „größten Satiriker aller Zeiten.“ Die abgeklärten Anschauungen des späteren Erfolgsverlegers Philipon scheinen jedenfalls nicht mit den spontanistischen Ansichten des jugendlichen Quertreibers identisch gewesen zu sein. Der hatte Lyon 1824 nach der Inszenierung einer Aufsehen erregenden regimekritischen Aktion beim lokalen Faschingsumzug, die auch für eine erste Begegnung mit der Justiz gesorgt hatte, verlassen müssen.(18)
J.J.Grandville: La Meilleure Forme De Gouvernement – Fourier´s system. from: Un autre monde, 1844
Die Fourierismus verbindet als eine der prominentesten Strömungen in den Pariser Boheme-Zirkeln der 1830er Jahre diese Phase des künstlerischen Aufbruchs und der Revolte mit der anarchistischen Karikaturbewegung des Fin de sciècle sowie mit den surrealistischen und situationistischen Avantgarden des 20. Jhds. (19) Es waren vor allem André Breton und Guy Debord, die sich als Propagandisten dieser Vision von der Befreiung der Leidenschaften hervorgetan haben.(20) Der erste avantgardistische Omniarch dieses Zuschnitts scheint allerdings Charles Philipon gewesen zu sein. Als gérant directeur und strategischer Einsatzleiter ließ er im Sinne der kreativen Vielfalt, die Fourier gepredigt hatte, alles Unmögliche zu und dirigierte seine Phalanx doch auch mit eiserner Hand. Nicht nur scheint er seinen Künstlern mitunter die Themen diktiert zu haben, sondern griff auch manchmal aktiv im Sinne eines minor détournements in deren Werke ein, indem er den harmlosen Gehalt einer Genredarstellung durch eine veränderte Unterschrift in eine bissige Polemik überführte. Unzuverlässigere Mitarbeiter wie Grandville degradierte er, verdiente Kämpfer wie Daumier wurden befördert.(21)
Für Philipons Soldaten war der „kriegerische“ Einsatz jedoch relativ risikofrei, denn bei Verleumdungsklagen wurden in der Regel die Drucker und die Verleger zur Verantwortung gezogen.(22) Und Philipon nutze seine Prozesse nach Art seines großen Vorbilds, des radikalen englischen Publizisten William Hone zu effektvoll inszenierten Auftritten.(23) Seine Plädoyers wurden dann im Anschluss in den hauseigenen Magazinen publiziert. Der legendärste Coup der illustrierten Pressegeschichte gelang ihm im November 1831, als ihm das Gericht die Gelegenheit bot coram publico zu demonstrieren, wie sich ein Louis-Philippe Porträt zeichnerisch in eine Birne überführen lässt, in ein Symbol, das sowohl sexuell als auch durch die Karikaturen von William Hones Illustrator George Cruikshank politisch konnotiert war.(24) Auch diese `Gerichtszeichnung´ wurde im Anschluss in der La Caricature publiziert. Philipons provozierender Auftritt verhalf ihm vor allem in den aufbegehrenden Studentenzirkeln zu einer ungemeinen Popularität. Noch Jahre später konnte die englische Dichterin Frances Trollope während eines Paris Besuchs im Quatier Latin massenhaft die Zeugnisse von Birnengraffiti-Kampagnen ausmachen.(25)
George Cruikshank: “Ah! Sure. Such a pair..”(King George IV and Queen Caroline) (Detail). 23.6.1820
Charles Philipon: The courtroom drawings. La Caricature, 26.1.1832
Charles Joseph Travies: “Voici Messieurs, ce que nous avons l’honneur d’exposer journellement.” La caricature. 6.3. 1834 (MePri-Collection)
Charles Philipon: Typographic pear. Le Charivari. 27.2.1834 (MePri-Collection)
Auguste Bouquet: “Ah! petit drôle de Prince, je vous y prends cette fois …. on n’est jamais trahi que par les siens!”, Le Charivari. 24.11.1833 (MePri-Collection)
Philipon wurde in drei Fällen zu insgesamt 13 Monaten Haft verurteilt. Die legeren Haftbedingungen, unter denen er interniert war, erlaubten es ihm allerdings den Kurs der Zeitung vom Gefängnis aus weiter zu steuern und die Neugründung einer weiteren Illustrierten einzuleiten. Kurz nach seiner Entlassung folgte ihm im August 1832 sein Zeichner Daumier nach mit einer sechsmonatigen Haftstrafe, die wirksam geworden war, nachdem er eine frühere Verwarnung, sich künftig regierungsfeindlicher Darstellungen zu enthalten, wiederholt missachtet hatte. Das unerwartete Exempel, das die Justiz statuiert hatte, indem sie erstmalig auch einen ausführenden Künstler belangte, bildet den Grundstein der Daumier-Legende und seiner Karriere als führender Pressezeichner.
Charles Joseph Travies: “La fête a été magnifique et l’allègresse universelle.” La Caricature, 30.8.1832 (published during Philipon´s imprisonment) (MePri-Collection)
Charles Pilipon /anon.: “Le cachot sera desormais une verite!” La caricature, 1.3.1832 (MePri-Collection)
Stilistisch wie inhaltlich basierten Daumiers frühe Arbeiten auf dem Vorbild von Nicolas – Toussaint Charlet, dem populärsten französischen Grafiker der Zeit.(26) Charlet war ein enger Freund und Mitarbeiter des früh verstorbenen Gericault gewesen. Anfang der zwanziger Jahre war zusammen mit Gericault in London gewesen und hatte wie dieser enorm viel vom Beispiel der englischen Sozialgrafik der Zeit profitiert.(27) Mit seinen weit verbreiteten Darstellungen der nachnapoleonischen Sozialmisere entwickelte er sich in den Restaurationsjahren zum künstlerischen Hauptvertreter der antidynastischen Opposition. Auch den Zensoren der nachfolgenden Julimonarchie waren seine chauvinistischen Glorifizierungen der imperialen Vergangenheit ein beständiger Stachel im Fleisch.(28) Charlet hatte wie Philipon im Atelier des Baron Gros studiert und er war es auch gewesen, der den späteren Verleger mit der Technik und den Möglichkeiten der Lithographie vertraut gemacht hatte. Charlets Richtung weisende Grafiken vereinen sowohl karikatureske als auch sozialrealistische Elemente und indizieren in dieser symbiotischen Struktur bereits in den frühen zwanziger Jahren die dichotome Bildpolitik, durch die sich das La Caricature-Magazin eine Dekade später auszeichnen würde.
Theodore Gericault: “Pity the Sorrows of a Poor Man.” From: Various subjects drawn from Life and on Stone. London 1821
N.-T. Charlet: “N´Abaondonnez pas cette pauvre veuve.- Do not abandon this poor widow.” Paris 1822 (MePri-Collection)
N.-T. Charlet: “C´est la fin du monde! – It´s the end of the world.” Paris 1824 (MePri-Collection)
N.-T. Charlet: “Le beau bras! C’est comme l’antique – What a beautiful arm. Just like antique!”, Paris 1823 (MePri-Collection)
Obgleich sich Daumier in der Folgezeit auch anderen Einflüssen öffnete, vor allem der Goya-Grafik, die Ende der zwanziger Jahre in Frankreich zirkulierte, blieb sein gesamtes grafisches Werk in seinen Grundzügen dem Vorbild Charlets verpflichtet. Bemerkenswert ist auch, dass die frühsten Grafiken, die den ausgebildeten „klassischen“ Daumier-Stil erahnen lassen, nicht von ihm selbst stammen, sondern von seinem Verleger.
Nach der Haftentlassung im Februar 1833 wurde der verdienstvolle Caricature – Soldat Daumier von Philipon in den Stand des ersten Zeichners des neu gegründeten Magazins Le Charivari versetzt. Mehr noch als durch La Caricature hatte sich Philipon mit diesem neuen Format einer satirischen Tagesillustrierten in die Annalen der Pressegeschichte eingeschrieben.(29) Le Charivari wurde zum Vorbild des englischen Punch-Magazine, dessen Erfolg wiederum die Herausgabe der ersten tagespolitischen Illustrierten, der Illustrated London News inspiriert hat. Die Anbindung der illustrierten Presse an die tagespolitische Aktualität war Philipons Verdienst. Allerdings hatte die Einrichtung einer strengen Vorzensur und die schwindelerregende Erhöhung der Kautionssummen den Abdruck von politischen Karikaturen praktisch unmöglich gemacht. Obgleich sich die Zeichner dadurch auf das Feld einer unverbindlichen Gesellschaftssatire beschränken mussten, gelang Philipon mit der grafischen Adaption der Theaterfigur des Robert Macaire ein zweiter populärer Coup gegen das System der Julimonarchie. In den windigen Unternehmungen des Spekulanten Macaire geißelte er die kriminelle Selbstbedienungsmentalität der bourgeoisen Wirtschaftswunderjahre und den meisten Lesern war klar, wer Maicaire eigentlich war: „Die Julimonarchie war nichts als eine Aktienkompanie zur Exploitation des französischen Nationalreichtums, deren Dividenden sich verteilten unter Minister, Kammern, 240.000 Wähler und ihren Anhang. Louis-Philippe war der Direktor dieser Kompanie – Robert Macaire auf dem Throne.“ (Karl Marx. Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850) Philipon verfasste die Dialoge zur Robert Macaire-Folge und beauftragte Daumier mit den Ausführungen der Zeichnungen. Von den Zeitgenossen wurden sie vor allem wegen des pantomimischen Reichtums an Gesten und wegen des realistischen „Effekts“ in der anatomischen Durchzeichnung der Figuren gerühmt.(30) Es war diese Serie, die den Namen Daumier verbreitet hat. Er selbst war von dem Erfolg überrascht, denn er zählte sie zu seinen schwächeren Arbeiten. Überragend war in der Tat vor allem Philipons Konzeption, die die Karikatur in die epische, gesellschaftsanalytische Dimension der Romane von Honore de Balzac eingeführt hat. Erst eine Dekade später, 1848, gelang es Philipons Freund Nadar dessen Idee eines politischen Bildromans in eine überzeugende bildnerische Form zu überführen. Die kam allerdings ohne den „Effekt“ eines akademischen Realismus aus.(31)
Charles Philipon / Honoré Daumier: Robert-Macaire et la houille. Le Charivari 1839 (MePri-Collection)
In unzähligen weiteren gesellschaftssatirischen Serien perpetuierte Daumier in den kommenden beiden Jahrzehnten seine Einsichten in den Alltag des Pariser Bürgertums. In der Subtilität der Beobachtung blieben diese Grafiken oft hinter den vergleichbaren Sozialspiegel seines Konkurrenten Paul Gavarni zurück. Zu Mitte der vierziger Jahre gehörte die sich an den klassischen Akademismus anlehnende Krayon-Manier der beiden Künstler allerdings bereits hoffnungslos zum alten Eisen. Eine Generation jüngerer Zeichner wie der Charlet-Schüler und Töpffer-Nachfolger Cham und der von Philipon entdeckte Gustave Doré begannen nun wahre Feuerwerke an grafischen Einfällen zu entzünden, in deren Widerschein die grimassierenden Bühnengestalten von Daumier und Gavarni zu grauen Salzsäulen erstarrten.(32) Mitte der fünfziger Jahre zog Paul Gavarni denn auch frustriert die Konsequenzen und stellte seine grafische Produktion mangels Nachfrage ein. Daumier hingegen belieferte den Charivari solange weiter, bis ihm Philipon schließlich im März 1860 wegen des anhaltenden Desinteresses der Leserschaft kündigte.
Hätte sich Daumier nicht Mitte der vierziger Jahre durch einen Umzug auf die Pariser Ile Saint-Louis, dem damaligen Zentrum der Boheme, in eine äußerst einflussreiche Nachbarschaft begeben, dann wäre seinem Werk vermutlich das gleiche Los beschieden gewesen wie dem der meisten seiner Kollegen. Es wäre allmählich dem Strom der Lethe anheim gefallen. Zu dem Freundeskreis, der sich ihm hier erschloss, zählten neben den Malern Delacroix und Corot auch die tonangebenden Kritiker Jules Champfleury und Charles Baudelaire, die beide schließlich in der Lage war, ihn aus dem Stand eines aus der Mode gekommenen Pressegrafikers in die Etage der „erlauchten Familie der Großen Meister“ zu befördern.
Baudelaire´s Ranking
Es war der dreizehn Jahre jüngere Charles Baudelaire, der 1857 mit dem Essay Quelque caricaturistes francais die Apotheose Daumiers eingeleitet hat.(33) Bemerkenswert an dieser Studie ist vor allem, dass sie die Entwicklung, die die Karikatur in den vergangenen zwanzig Jahren genommen hatte, ignoriert. Bereits die erste Textfassung von 1846, die Baudelaire später nur unwesentlich überarbeitet hat, war keineswegs auf dem aktuellen Stand der Entwicklung gewesen. Der Maßstab seiner Beurteilung waren Kriterien, die er aus der Malereikritik abgeleitet hatte. Die Autonomie des Bildnerischen und die Koheränz des Bildgefüges waren puristische Postulate, mit denen dem fluiden und hybriden Medium der Karikatur kaum beizukommen ist. Es verwundert daher nicht, dass ein geplanter Abschnitt über die Kunst von Rodolphe Töpffer nie zur Ausführung kam. Es fehlten ihm schlicht die Instrumente dafür. Dass die ursprünglich projektierte Karikaturhistorie nur in einer Rumpffassung publiziert wurde, trug zu einer proportionalen Verzerrung bei, von der vor allem die Daumier-Legende profitiert hat. Die pyramidale Zuspitzung seines Essays auf die Elevation des Künstlerfreundes hin, mit dem er gerade an der Herausgabe eines Werkverzeichnisses gearbeitet hatte, war mit der systematischen Herabsetzung des gesamten kollegialen Umfeldes erkauft.
Das Herausragende Daumiers, der mit einer „Sicherheit“ zeichne „wie die großen Meister“ hebt sich für ihn vor allem von allen Arten des „Kleinmeisterlichen“ ab, wie er es in Grandville repräsentiert findet. Baudelaire´s Anschauung strebt nach Monumentalität. Tendenzen zur Detaillierung in der Kunst straft er ab als „Geschmacksverirrungen.“ Miniaturen sind ihm „Flöhe,“ Ungeziefer.(34) Während Daumiers „Genie“ sich in der bildnerischen Formulierung „unverblümt und direkt“ äußere, macht er in Grandville den verkappten homme de lettres aus, „ein auf krankhafte Weise literarischer Geist, der immer um unzulängliche Mittel bemüht war, mit denen sich seine Gedanken in den Bereich der bildenden Kunst übertragen ließen; weshalb wir ihn denn auch des öfteren das alte Verfahren anwenden sahen, das darin besteht, seine Gestalten mit Spruchbändern auszustatten, die ihnen aus dem Mund hängen.“ Erstaunlich für einen Propagandisten und Übersetzer der Schauerromantik eines Edgar Alan Poe bleibt das phobische „Unbehagen,“ das ihm die „systematische Unordnung“ von Grandvilles phantastischen Visionen bereitet. Gegen diese kranke Welt der „Bilderflucht“ und „Traumgesichte“ heben sich für ihn auf wohltuende Weise die soliden und aufgeräumten Darstellungen eines Künstlers wie Daumier ab, „der sorgfältig alles vermeidet, was für das französische Publikum kein Gegenstand einer klaren und unverzüglichen Wahrnehmung wäre.“ Diese bodenständige Einstellung geriere ein Werk, über dem „ein Fonds von Redlichkeit und Bonhomie“ liegt.
J.J. Grandville: Etrennes au pouvoir. La Caricature 1833 (MePri-Collection)
Einen weiteren homme de lettres, der ihm in seinem Realismus allerdings weit mehr behagt, macht er in Paul Gavarni aus. Wie „allen hommes de lettres“ eigne aber auch diesem „ein leichter Anflug von Korruption“. Im Gegensatz zu Daumier verstand sich Gavarni nämlich darauf, die Texte zu seinen lithographischen Darstellungen selbst zu verfassen. Für die Brüder Goncourt war Gavarni ein „Bildtextgenie“. In den dialogischen Unterschriften sei es ihm gelungen eine Art „Stenographie der Alltagssprache“ wiederzugeben, die sich in ihrer Unmittelbarkeit über die geläufige Prosa der zeitgenössischen Romanschriftsteller erhebe. (35) Der Nuancenreichtum von Gavarnis Milieuschilderungen erschwerte den Zugang zu seinen Grafiken allerdings mit zunehmender historischer Ferne. In der Gunst der Zeitgenossen rangierte seine künstlerische Reputation allerdings über der Daumiers. Das sei aber, so Baudelaire, „keineswegs verwunderlich. Da Gavarni weniger Künstler ist,“ sei er für die Leute „leichter verständlich.“ Zu diesen ahnungslosen Leuten zählte übrigens auch Edgar Degas, der ein leidenschaftlicher Sammler von Gavarni-Grafiken war und sich aus ihnen ein Kaleidoskop des Pariser Alltagslebens zusammenstellte.
Paul Gavarni: “Encore! si j´avais autant de ménages a faire..” from: Les Lorettes Vieillies. Paris 1853 (MePri-Collection)
Baudelaire´s Argumentation zufolge ist es vor allem die anatomische Stimmigkeit in den Zeichnungen Daumiers, die Art, mit der „die Logik des Gelehrten in eine leichte, flüchtige Kunst übertragen“ wird, die Daumier zu einem „besonderen Künstler aus der erlauchten Familie der großen Meister erhebt.“ Kontrastiert wird diese erhabene Qualität seiner Zeichnungen, durch die er die Karikatur „zu einer ernsten Kunst erhoben“ habe, mit den „vulgären Kritzeleien“ von Nicolas -Toussaint Charlet. Dessen „schwankend und unscharf“ gesetzte Figuren bestünden überall nur aus “Rundungen und Ovalen.“ Die vernichtenden Schärfe seiner Polemik – Baudelaire nennt Charlet einen knechtischen „Gelegenheitsarbeiter“ und einen „Verfertiger nationaler Albernheiten“ – hat es mit vermocht, das umfangreiche Werk dieses Künstlers , das für die Entwicklung des Sozialrealismus und der lithographischen Kultur in Frankreich von weitaus größerer Bedeutung war als das Daumiers, auf eine kaum nachvollziehbare Weise zu marginalisieren. Delacroix war über diese Attacke des einflussreichen Starkritikers auf den von ihm verehrten Charlet, den er für einen hervorragende „Charakterschilderer“ in der Art eines Moliere hielt, dermaßen aufgebracht, dass er ihn in aller Heftigkeit zur Rede gestellt hat. Wie Daumier selbst auf diese Herabsetzung seines frühen Vorbilds reagiert hat, ist nicht bekannt.
Edme Jean Pigal: Portrait N.-T. Charlet – “Qui voudra de Charlet expliquer les succès..”, Le Charivari 1842 (MePri-Collection)
Zwei weitere Pioniere des grafischen Sozialrealismus und der politischen Karikatur, Edmé-Jean Pigal und Charles Joseph Travies, von deren Vorbild der junge Daumier ebenfalls profitiert hat, werden von Baudelaire weitaus gnädiger beurteilt. Edmé-Jean Pigal, ein weiterer Schüler des Baron Gros entwickelte seine Genredarstellungen nach dem Vorbild Charlets. Baudelaire fand seine Volksszenen „vorzüglich“ und gut beobachtet. Seine Darstellungen seinen allerdings eher harmloser Natur und ohne rechte Einbildungskraft.
Edme Jean Pigal : “Gueux nous sommes, Gueux nous etions, Gueux nous mourrons.” Le Charivari. 26.11.1833 (MePri-Collection)
Charles Joseph Travies hielt er für einen „vortrefflichen Künstler“ von „ausgesprochener Eigenart,“ der außerdem ein „tiefes Verständnis für die Freuden und Leiden des Volkes“ gehabt habe. Es fehle ihm allerdings an künstlerischer „Sicherheit.“ „Er bessert, verbessert sich unaufhörlich. Er dreht, er wendet sich und eilt einem unerreichbaren Ideal nach. Er ist ein Fürst des Mißgeschicks. Seine Muse ist eine Vorstadtnymphe, bleich und melancholisch.“ Tatsächlich weisen die Grafiken von Travies nicht den jovialen und selbstsicheren Grundzug auf, den er an der Kunst seines Freundes schätzte. Als politischer Karikaturist war der unsichere Travies allerdings weitaus erfindungsreicher und schlagkräftiger als Daumier. Während der Fokus von Daumiers Sozialgrafiken auf dem Bourgeois lag, konzentrierte sich Travies auf die unterbürgerlichen Schichten, auf Arbeiter, Arbeitslose, versklavte Frauen, Bettler und Waisen.(36) Über vielen seiner Arbeiten liegt der Schleier von Melancholie, den Baudelaire diagnostiziert hatte. Aber immer auch mischt sich in seine Darstellungen ein Grundzug von trotzigem Stolz. Es war nicht, wie so oft kolportiert wird, Honoré Daumier, der die Figur des wehrhaften Proletariers in die Grafik der Moderne eingeführt hat, sondern Charles Joseph Travies.(37) Angeregt durch die jakobinische Revolutionsgrafik, sowie durch lithographische Zyklen von Gericault und Charlet hatte dieser im Schoß der Karikatur einen klassenkämpferische Ikonographie entwickelt, in der sich die Stereotypen der sozialistischen Grafik des 20. Jhds vorgeprägt finden.
Charles Joseph Travies: “Peuple affranchi, dont le bonheur commence..”, La Caricature 27.10.1831 (MePri-Collection)
Charles Joseph Travies: “Décidément! l’arbre est pourri, il n’y a pas une branche de bonne..”, La Caricature, 19.9.1833 (MePri-Collection)
J.J. Grandville / Forest: “Je séparerai l’ivraie du bon grain…”, La caricature, 6.10.1831 (MePri-Collection)
James Barre Turnbull: 10,000,000 Organized Workers against Appeasement. 1939 (MePri-Collection)
Bemerkenswert sind auch seine kämpferischen Darstellungen von ausgegrenzten Frauen, von Prostituierten und Müttern unehelicher Kinder. Ein Vergleich zwischen einer Grafik von ihm aus den frühen vierziger Jahren Celles qui deviennent lionnes (Diejenigen, die zu Löwinnen werden), die eine verstoßene Mutter mit Kind zeigt, mit den zeitnahen Blaustrumpf- Serien von Daumier enthüllt die eklatante ideologische Kluft zwischen dem engagierten sozialrevolutionären Impuls, der Travies´Arbeiten bestimmt und dem bürgerlichen Konservatismus seines Kollegen.(38) Travies war ein enger Freund der Sozialistin und Frauenrechtlerin Floran Tristan und war darüber hinaus anscheinend mit nahezu sämtlichen emanzipatorischen Lebensreformbewegungen der Zeit verbunden, mit dem Saint -Simonismus, dem Fourierismus (39) und dem tantrischen Evadisme des Bildhauers Simon Ganneau.(40)
Charles Joseph Travies: Le Chiffonnier, Physionomie de Paris. 1840 (MePri-Collection)
Charles Joseph Travies: “Celles qui deviennent lionnes”, L´artiste. 1844 (MePri-Collection)
Honoré Daumier: Les Femmes Socialistes. Le Charivari 1849 (MePri-Collection)
Der kurze Abschnitt, den Baudelaire Travies in seinem Karikaturessay eingeräumt hat endet mit der ahnungsvollen Feststellung, dass dieser „seit einiger Zeit (…) von der Bühne verschwunden“ sei, “man weiß nicht recht warum.“ Seine Sorgen waren nur allzu berechtigt. Nur zwei Jahre nach der Veröffentlichung starb der Zeichner der Armen, der „Fürst des Mißgeschicks“ selbst völlig mittellos und vergessen in Paris. Noch bis Mitte der vierziger Jahre waren seine Arbeiten regelmäßig in der illustrierten Presse zu finden gewesen. Nachdem jedoch der sozialrevolutionäre Enthusiasmus der „utopischen“ Sozialisten in den Junimassakern 1848 von der bourgeoisen Reaktion begraben worden war, hatte man für diesen Pionier der französischen Sozialgrafik keine Verwendung mehr. Als zu Ende des Jahrhunderts anarchistische Grafiker der Montmartre-Szene wie Theophile Steinlen, Jules Grandjouan und Frantisék Kupka dort anknüpften, wo Travies geendet hatte, war sein Name längst kein Begriff mehr.
Mythos „Rue Transnonain, le 15 avril 1834“
Die Lithographie, in der Daumier das Blutbad darstellte, das Regierungstruppen an Bewohners eines Mietshauses am 15.4.1834 in der Pariser Rue Transnonain verübten, ist laut Baudelaire das Werk, in dem sich „Daumier (…) wahrhaft als großer Künstler“ erwiesen habe. In der Feststellung, die er dann trifft, dass das Blatt „eigentlich keine Karikatur“ sei, denn es zeige „die triviale und gräßliche Wirklichkeit der Geschichte“, wiederholt er teilweise wörtlich den Kommentar, den der Verleger Philipon selbst in der Ausgabe der La Caricature vom 2.10.1834 zur Bewerbung dieser innerhalb einer Serie von teuren Vorzugsausgaben erschienenen Lithographie platziert hatte. (41) „Das ist in der Tat keine Karikatur mehr,“ schreibt Philipon, „das ist nicht übertrieben, das ist die blutgetränkte Seite unserer modernen Geschichte, eine Seite, gezeichnet von einer kraftvollen Hand und diktiert von einem edlen Haß. Daumier hat sich mit diesem Blatt zu großen Höhen aufgeschwungen: Er hat ein Gemälde geschaffen, das, obwohl nur in Schwarz und auf ein Blatt Papier gemalt, nicht geringer geschätzt und nicht weniger von Dauer sein wird.“(42)
Honoré Daumier: Rue Transnonain, le 15 avril 1834. Edition Association mensuelle. Blatt 24.October 1834
Daumier hatte die Zeichnung von dem Massaker erst fünf Monate nach den Ereignissen im September 1834 angefertigt. Er war nicht vor Ort, sondern rekonstruierte die Begebenheit nach Augenzeugenberichten in der Manier der Historienmalerei. Vor allem im Vergleich mit den Kriegsgrafiken Goyas, mit denen diese Lithographie immer wieder in Beziehung gesetzt wird, enthüllen sich die Schwächen von Daumiers Entwurf. Er wirkt gestellt, riecht nach Gemälde. Kennt man den Hintergrund der Grafik nicht, dann lässt sich die beleuchtete Figur des toten Familienvaters im Zentrum des Bildes leicht mit der eines Betrunkenen verwechseln, der nach durchzechter Nacht aus dem Bett gerutscht ist. Das Kind, das er unter sich begraben hat wirkt puppenhaft, die beiden anderen Familiemitglieder erscheinen hinzukonstruiert. Die klassischen Ambitionen dieser Grafik ließen sich nur sehr knirschend in Einklang bringen mit dem Anspruch auf tagespolitische Aktualität, der dem Blatt durch die Datumsangabe in der Bildunterschrift aufgesetzt wurde.(43)
Trotz dieser Defizite hat sich seit Philipon´s Annonce die Ansicht, dass gerade diese Grafik es wert sei, in den kunsthistorischen Pantheon aufgenommen zu werden in großer Einmütigkeit durchgesetzt. Juerg Albrecht zufolge stellt „die schreckliche Lithographie (..) in künstlerischer Vollendung (…) das Leiden des Volkes dar, wie es vor Daumier nur Goya und nach ihm nur Picasso in solcher Leidenschaft und Großartigkeit gelungen ist.“ (44) Henning Ritter ist in seiner Bedeutungszuschreibung noch einen Schritt weiter gegangen. Daumier habe mit dieser Darstellung „den Typus eines Zeitbildes geschaffen, das nur durch Faktizität wirken will.“45 Dabei hat sich bereits die Erkenntnis durchgesetzt, dass Daumier hier wie in vielen seiner Karikaturen weniger mit Fakten als vielmehr mit kunsthistorischen Vorlagen und Anspielungen gearbeitet hat. Der Realismus von Jacques-Louis David´s Der Tod des Marat wurde ebenso als Quelle der Inspiration ausgemacht wie das Gemälde Die Beweinung Christi von Peter Paul Rubens, in dem der Leib des Gekreuzigten in ähnlich verkürzter Form zur Darstellung kommt wie der des ermordeten Vaters. (46) Dabei wäre es naheliegender, Einflüsse in Augenschein zu nehmen, die Daumier aus seinem direkten Umfeld empfangen hat. Der Name seines engsten Künstlerfreundes Philippe Auguste Jeanron taucht in der Daumier-Literatur üblicherweise nur als Adressat eines Briefes in Erscheinung, den Daumier in seiner Haft verfasst hat. Gabriel P. Weisberg, der sich verschiedentlich um eine Wiederentdeckung diese Künstlers bemüht hat, bezeichnete Jeanron als „eine der mysteriöseren Figuren in den Annalen des frühen Realismus.“(47) Als Anhänger des italienischen Berufsrevolutionärs Filippo Buonarroti, der einer der Hauptexponenten der frühkommunistischen Conjuration des égaux war, zählte der Maler und Grafiker Jeanron zu den politisch radikalsten Mitarbeitern von Philipons La caricature. Bereits in den frühen dreißiger Jahren schuf er Programmbilder eines kritischen Sozialrealismus, die die Verelendung des städtischen und ländlichen Proletariats zur Darstellung brachten.(48) Die Februarrevolution 1848 bescherte ihm für die kurze Zeit der republikanischen Übergangsregierung die Oberaufsicht über die staatlichen Museen in Paris. Dabei strukturierte er die Sammlung des Louvre nach didaktisch-chronologischen Gesichtspunkten als ein Palast des Volkes um und kümmerte sich um eine Neubewertung früher sozialrealistischer Tendenzen in der Malerei.(49)
Philippe-Auguste Jeanron: Une Scène de Paris. Paris 1833 (Chartres, Musée des Beaux-Arts)
Gerade in Hinsicht auf eine Beurteilung der Faktizität in Daumiers Rue Transnonain-Lithographie lohnt ein Blick auf Jeanrons Werk. In einer Zeichnung von 1831, die eine Gruppe mit einem Sterbenden zeigt, der bei den Straßenkämpfe der Juli-Revolution verwundet worden war, finden sich vermehrte Hinweise auf eine Adaption des besagten Rubens-Gemäldes. Daumier muss die Zeichnung gekannt haben, denn sie zirkulierte in seinem Freundeskreis (50) und es ist naheliegend, dass er mit seinem engsten Vertrauten über diesen Versuch diskutiert hat, ein tagesaktuelles Ereignis aus dem republikanischen Freiheitskampf durch die Verwendung einer sakralen Bildvorlage mythisch zu überhöhen.
Philippe-Auguste Jeanron: Dying man. Paris 1831 (private coll.)
Peter Paul Rubens: Die Beweinung Christi. 1614 (Wien, Kunsthistorisches Museum)
Die makabre Lithographie La Republique a páli .., die Jeanron im Januar 1831 für die La Caricature gezeichnet hat, gehört zu den kompromisslosesten Blättern, die in dieser Zeitung veröffentlicht worden sind. Zu sehen ist der Bürgerkönig im Leichenschauhaus, der dort im Angesicht der Leichenblässe zweier republikanischer Opfer, die während eines Aufstands im Juli 1832 erschossen worden sind, seinen Spruch von der „verblassenden Republik“ bestätigt findet.(51) Völlig unvermittelt lässt Jeanron hier den fiktionalen karikaturesken Modus der Zeitungswirklichkeit, die die Betrachterebene des Bürgerkönigs und auch des Zeitungslesers ist, mit der rohen retinalen Wirklichkeit zusammenprallen, die sich hinter der Scheibe der Pathologie eröffnet. Die kontrollierte Wirklichkeit der Pressegrafik und die Wirklichkeit der Strasse klaffen hier sowohl inhaltlich als auch formal als zwei gänzlich unvereinbare Welten auseinander. Verglichen mit dem fotografischen Realitätsschock, mit dem Jeanron den Zeitungsleser hier konfrontiert, nimmt sich der Blick, den Daumier in das Sterbezimmer der Rue Transnonain eröffnet hat fast betulich aus.(52)
Philippe-Auguste Jeanron: “La République a pâli…”, La Caricature, 31.1.1833 (MePri-Collection)
Daß Daumier´s Lithographie trotzdem einen so außerordentlichen Rang eingenommen hat, verdankt sie wohl zum einen dem hohen Sammlerwert, denn der Großteil der Auflage wurde beschlagnahmt und vernichtet und zum anderen der Tatsache, dass die Darstellung im Kontext der Caricature eben ganz demonstrativ keine Karikatur sein wollte. Daumier folgte in diesem Ausscheren aus dem Karikaturmodus offenbar keinem selbst bestimmten Impuls, sondern einer wohl durchdachten Strategie seines Verlegers. Dieser hatte bereits kurz nach den Arbeiteraufständen in seiner Heimatstadt Lyon, die den Unruhen in der Rue Transnonain in Paris vorausgegangen waren, in der Mai-Ausgabe des Le Charivari mit einer Reihe von grafischen Darstellungen der Verwüstungen reagiert, die in ihrer sehr sachlichen, topografischen Art überaus ungewöhnlich waren. Er hatte mit der Verfertigung dieser Zeichnungen einen lokalen Künstler beauftragt und damit nach Meinung von David S. Kerr bereits den grafischen Journalismus der illustrierten Presse, die sich in den 1840iger Jahre etablieren sollte, vorweggenommen.(53)
In der Art und Weise, wie er auf die „die blutgetränkte Seite unserer modernen Geschichte“ reagierte, war Philipon ein weiteres Mal dem Beispiel von William Hone gefolgt. Das illustrierte Pamphlet The Political House that Jack built, das dieser im Dezember 1819 in Kollaboration mit dem Karikaturisten George Cruikshank veröffentlicht hatte, stellt in kondensiertester Form eine Art Matrix des Philippon’schen Karikaturkampfs der dreißiger Jahre vor. Mit einer fulminanten Gesamtauflage von mehr als 100 000 Exemplaren und einer Unzahl von verwandten Adaptionen und gegnerischen Repliken war diese sehr krude, aber überaus erfindungsreiche politische Travestie eines Kindergedichts das wohl einflussreichste Werk in der Geschichte der politischen Karikatur. In einer Abfolge von zehn Emblemata argumentieren die Verfasser für die Freiheit der Presse, das allgemeine Wahlrecht und gegen die korpulente Birnengestalt des amtierenden Prinzregenten und späteren Monarchen George IV.(55)
William Hone / George Cruikshank: The Political House That Jack Built. (pl.5: The Thing -Pl.8: The Man), London 1819 (MePri-Collection)
Der Auslöser und das Kernstück dieses Bildpamphlets war das Massaker, das Regierungstruppen am 16. August 1819 unter den Demonstranten auf dem St. Petersfield in Manchester angerichtet hatten. Die Darstellung dieses so genannten Peterloo-Massakers ist der Moment, in dem die Bilderfolge aus dem parodistischen Modus in den einer reportagehaften Ereignisgrafik umschaltet. Dargestellt ist am Beispiel einer verletzten und verzweifelten Familie im Vordergrund das Leid tragende Volk, The People. Im Hintergrund spielt sich die blutige Niederschlagung der Demonstration ab. Die Situation ist in der Art eines Augenzeugenberichts erfasst. Die skizzenhafte Anlage der Zeichnung soll Zeugnis ablegen von der Authentizität der Schilderung und der Erschütterung des Verfassers. Zehn Jahre nach der Katastrophe von Manchester, die damals auch für Unruhen in Paris gesorgt hatte, wollte Philipon in den Weberaufständen von Lyon und dem Massaker in der Rue Transnonain das Waterloo des französischen Birnenregenten ausmachen. Der Drehplan für seinen publizistischen Gegenschlag lag vor.
William Hone / George Cruikshank: The Political House That Jack Built. (Pl.9: The People), London 1819 (MePri-Collection)
Kanonische Karikatur
Wenige Jahre nach der Veröffentlichung von Baudelaire´s Essay machte sich ein weiterer enger Freund von Daumier, der Kritiker und Apologet des Realismus Jules Champfleury daran, die dominante Position, die Baudelaire dem Zeichner eingeräumt hatte, auszubauen und zu zementieren. Mehr als zwei Drittel seiner 1865 erschienenen Historie de la caricature moderne sind dem Werk Daumiers gewidmet. In den Grundzügen seiner Argumentation folgte Champfleury zum Teil fast wörtlich den Vorgaben Baudelaires, der sich in seiner Kritik wiederum der Muster bedient hatte, die ihm das Verlagshaus Aubert und Philipon selbst in ihren Kommentaren und Anzeigen an die Hand gegeben hatten. Die Perpetuierungsmaschinerie der Daumier – Rezeption begann sich machtvoll zu drehen und sie fing an sich gegen den zu wenden, der sie in Gang gesetzt hatte, gegen Daumiers Entdecker und Souffleur Philipon.
War es in einer früheren Rezension des Robert Macaire – Albums noch Philipon selbst gewesen, dem als Begründer und Autor der Serie der Titel eines Michelangelo der Karikatur verliehen worden war, so verfestigte sich dieses „amüsante Paradox“ allmählich in kunsthistorischen Ernst.(56) Allerdings war es nunmehr nicht der Initiator der französischen Karikaturbewebung sondern sein Chefzeichner, der diesmal mit dem Heros der Renaissance identifiziert wurde. Wie Michael Melot in seiner Rezeptionsgeschichte des Daumier’schen Werks aufgezeigt hat, fällt die späte Entdeckung seiner Malereien, die es dann endgültig erlaubte, ihn in den Pantheon der Großkunst zu erheben, in die Gründungsphase der Dritten Republik.(57) In dem verdienten Caricature-Soldaten, der im Gefängnis für die republikanische Sache gelitten hatte, der sich aber auch nie in einen gefährlichen Radikalismus verstiegen hatte, hatte man die ideale künstlerische Galionsfigur gefunden. Michel Melot zitiert Edmond de Goncourt, den Biographen von Paul Gavarni, der als Royalist ins Abseits geraten war: “Die Republikaner sind es, die Daumier aufgebaut haben, und sie haben es damit übertrieben.“
Edmond Morin: Honoré Daumier. Le Monde Illustré. 22.2. 1879 (Ausschnitt) (MePri-Collection)
Die kunstgeschichtliche Kanonisierung von Daumier’s Werk, die nun in Gang kam, war jedoch alles andere als unproblematisch. „Der wirkliche Daumier,“ so Michel Melot, „hat nie eine Ausstellung als Ausdrucksmittel genutzt, er regte auch keine kunstkritische Kommentare an.“(58) Ebenso entbehren Vergleiche seines grafischen Werkes mit dem eines Rembrandt, eines Hogarth oder Goya, die immer wieder unternommen wurden, jeder Grundlage. Im Gegensatz zu diesen hatte Daumier keine seiner Grafiken im Stadium einer unternehmerischen Selbständigkeit ausgeführt. Im Gegenteil. Seine Qualitäten hatten in den entscheidenden Phasen des Karikaturkampfs gerade in seiner Teamfähigkeit und seiner redaktionellen Loyalität bestanden. Um aus dem Pressegrafiker Daumier einen richtigen Künstler „aus der erlauchten Familie der großen Meister“ zu machen, mussten sich seine frühen Biographen an die heikle Aufgabe machen, seine Biographie dergestalt zu frisieren, dass zum Schluß aus dem hauptberuflichen Grafiker ein Maler und Bildhauer wurde, der sich nur gelegentlich als Karikaturist betätigt hatte.(59) Philipon kam dabei die Rolle eines Schurken zu, der das Genie des frei geborenen Republikaners für seine kommerziellen Zwecke entfremdet und unter das Joch der Gebrauchsgrafik gespannt hat, und der ihn als Gipfel der Perfidie zum Dank dafür am Ende vor die Tür gesetzt und der Armut preisgegeben hat.(60) „Philipon, der sein ganzes Leben dafür gekämpft hatte, dass die Karikatur als ein künstlerisch bedeutsames Genre wahrgenommen wird, ist selbst vom posthumen Erfolg seiner Bemühungen ausgestochen worden. Sein eigener Ruhm ist verschattet worden von dem der Künstler, die er gefördert hat, besonders von dem Daumiers.“ (61)
Die Herabsetzung der editorischen Rolle von Philipon geschah im Gefolge einer ästhetischen Aufwertung der einzelnen Karikaturen und ihrer Herauslösung aus dem politischen Kontext der Kampagnen, für die sie geschaffen wurden. Die Zeitgenossen hatten diese Kampagnen noch ganz selbstverständlich vor allem mit dem Namen ihres Autors und Regisseurs Philipon verbunden.(62) Der Daumier-Kult basiert denn vor allem auch auf einer systematischen Entschärfung der politischen Inhalte seiner Werke und ihrer allmählichen Herauslösung aus dem Kontext der Pressegrafik. „Die Situation ist eigenartig,“ schreibt Michel Melot, „die Republik eignet sich Daumier als ihren Künstler an, aber sie unterbindet alle Vorstellungen, nach denen eine Kunst republikanisch sein könne. Die Kunst muß ideal, universal bleiben.“ In den Vordergrund gerückt wurde Daumiers klassisches Künstlertum, das akademischen Ansprüchen genügen konnte. Vor allem in Deutschland, wo der Daumier-Enthusiasmus weitaus größere Blüten trieb als in Frankreich, (63) war dieses antikisierende Element in Daumiers Kunst dazu geeignet, das Bildungsbürgertum mit dem in seiner Widersprüchlichkeit und Inkohärenz suspekten Genre der Karikatur zu versöhnen. Sein bourgeoiser Sittenspiegel konnte nach den beiden Weltkriegen in Ost und West gleichermaßen goutiert werden. Der bonhomme Daumier wurde zum Spitzweg aller Demokraten und Sozialisten.(64)
Für die Vertreter der zweiten Karikaturwelle, die seit Mitte der sechziger Jahre mit einem ungeahnten Erfindungsreichtum über Frankreich hereingebrochen war, war Daumier eine zentrale Bezugsgröße, allerdings weniger in künstlerischer als vielmehr in ideeller Hinsicht. Daumier selbst hatte nach seiner Wiedereinstellung im Le Charivari in der produktiven Konkurrenz mit jüngeren Karikaturisten wie André Gill, Alfred Le Petit, Pilotell und Moloch einen erstaunlichen Auftrieb seiner Gestaltungskraft erfahren. Seine späten Grafiken zum preußisch-französischen Krieg 1870 gehören zu seinen besten Werken. Die Hoffnung der jungen Zeichner, dass mit der kunsthistorischen Anerkennung von Daumiers Werk auch eine Nobilitierung des gesamten Genres einhergehen würde, wurde jedoch enttäuscht, denn der Daumierkult absorbierte jegliches weitergehende Interesse. Karikatur, die kanonisch sein wollte, hatte dem klassischen Modus Daumiers zu folgen. Eine Auseinandersetzung mit den neueren Entwicklungen fand kaum mehr statt. Man verharrte auf der Markierung, die Baudelaire und Champfleury gesetzt hatten.
Die ganze Tragweite der revolutionären Bildpolitik von Philipon erwies sich erst im Ausgang des Jahrhunderts in den experimentierfreudigen Ausprägungen der Pressegrafik der Montmartre-Szene. Hier begann sich der anarchische Impuls von La Caricature erneut zu verdichten, um sich schließlich in die provozierenden Spektakel und hermetischen Spielarten der frühen Avantgarden und den blanken Heroismus einer sozialistischen Kampfkunst zu verzweigen. Die Fokussierung auf die Personalie Daumier hatte den Blick von dieser Tragweite abgelenkt auf die tiefgründige aber doch ephemere Einsicht, dass dieser Künstler „die Menschen übrigens nackt zeichnete und sie erst dann ankleidete.“(65)
Alexander Roob, Mai 2010
(Nachtrag: Dank an Herrn Rudolf Josche für einige Berichtigungen in den Bildunterschriften)
Anmerkungen
1 Thomas Gaehtgens: Honore Daumier. in: Honore Daumier / Charles Philipon: Caricaturiana. Dortmund 1979 S. 208
2 Roger Passeron: Daumier-Témoin de sons temps, Fribourg 1979 (dtsch.: Honoré Daumier und seine Zeit, Würzburg 1979)
3 Ob es sich tatsächlich um eine Kündigung gehandelt hat, wie Baudelaire suggeriert hat, oder nicht vielmehr eine freiwillige Demission des Zeichner, wie Philipon behauptete, ist nicht ganz klar. Tatsache ist, dass das negative Image Philipons in der Daumier-Rezeption vor allem auf der Annahme einer Entlassung basiert. Charles Philipon starb im Januar 1862. Im Jahr darauf wurde Daumier erneut im Le Charivari eingestellt.
4 Nach William Heath´ Karikaturmagazin Northern Looking Glass, Glasgow 1825-26
5 Daumier zählt zu den wenigen Karikaturisten, die nicht aus der Schule des Baron Gros kamen. Es war Zeichenschüler bei dem Künstler und Archäologen Alexandré Lenoir und hatte eine Lithographenlehre in dem Betrieb des bonapartistischen Illustrators Zephirin Belliard hinter sich.
6 Klaus Herding / Rolf Reichardt: Die Bildpublizistik der französischen Revolution. Frankfurt 1989. S.17
7 Bernadette Collenbe Plotnikov: Klassizismus und Karikatur. Eine Konstellation der Kunst am Beginn der Moderne. Berlin 2008 / Friedrich Schulze: Die deutsche Napoleon – Karikatur. Weimar 1916
8 Albert Boime: Jacques-Louis David, Scatological Discourse in the French revolution, And the art of Caricature. Arts Magazine February 1988
9 David gestaltete einen zentralen Teil seines Gemäldes Raub der Sabinerinnen (1799) nach James Gillrays Karikatur Sin, Death and the Devil. Daumier übersetze Davids Gillray-Adaption später wieder in eine Karikatur zurück.
10 Hierzu: Claude Langlois: Vierzig Jahre später. Der Schlagschatten der Revolution. in: Raimund Rütten ed. Die Karikatur zwischen Republik und Zensur. Bildsatire in Frankreich 1830 bis 1880. Marburg 1991 S. 72 ff.
11 Robert Justin Goldstein: Censorship of Political Caricature in Nineteenth-Century. Kent 1989. S. 134 ff.
12 George Saintsbury ed.: William Thackeray, Paris Sketchbook and Art Criticisms. London o.J. S. 176 ff.
13 zitiert nach: Sepp Hiekisch-Picard: Künstler und Illustratoren um Charles Philipon und das Verlagshaus Aubert. in: Bilderwelten. Französische Illustrationen des 18. und 19. Jahrhunderts. Aus der Sammlung von Kritter. Gerhard Langemeyer ed. Dortmund 1985. S 142
14 Martine Contensou: Balzac et Philipon associés : Grands fabricants de caricatures en tous genres. Paris 2001
15 1797 scharte der David -Schüler Maurice Quai eine proto-bohemische Gruppierung um sich, die sich Les primitifs nannten bzw. Les barbus.
16 Nadar: Quand j´etais photographe, Paris 1900 (dtsch: Nadar: Als ich Photograph war. Zürich 1978. S. 195 ff.)
17 Viele Grafiken Grandvilles, vor allem sein 1844 erschienenes Illustrationswerk Un autre monde sind von den Visionen Fouriers inspiriert. Nadar nennt ihn einen verkannten Dichter und Reformator.
18 David S. Kerr: Caricature and French Political Culture 1830-1848. Charles Philipon and the Illustrated Press. Oxford 2000. S.7
19 Jonathan F. Beecher: Charles Fourier: The Visionary and His World. Berkley 1987
20 André Breton seiner 1949 publizierten Ode á Charles Fourier
21 Wie Tagebuchaufzeichnungen Grandville´s verraten folgte er den politischen Themenstellungen, die Philipon vorgab, nur widerwillig. siehe dazu: Kerr S. 40
22 Kerr S. 39
23 William Hone: The three trials of William Hone, for publishing three parodies. London 1876 / Ben Wilson: The Laughter of Triumph: William Hone and the Fight for a Free Press. London 2005 / Frederick W. Hackwood: William Hone. His Life and Times. London 1912
24 Hierzu:Sandy Petrey: In the Court of the Pear King: French Culture and the Rise of Realism. Ithaka / London 2005
25 “Being arrived at the quatier Latin, we amused ourselves by speculating on the prosperity manifested by very young men, who were still subjected to restraint, for the overthrow of anything that denotes authoirty or threatens discipline (…) pears of every size and form, with scratches signifying eyes, nose and mouth, were to be seen in all directions: which being interpreted, denotes the contempt of the juvenile students for the reigning monarch.“ Frances Trollope, Paris and the Parisiens in 1835, zitiert nach: Kerr S. 144
26 Francois Lhomme: Nicolas-Toussaint Charlet. 1792-1845. Paris 1892 / Beatrice Farwell ed.: The Charged Image: French Lithographic Caricature 1816-1848. Santa Barbara 1989. S.47ff.
27 Bruno Chenique: On The Far Left Of Gericault. in: Serge Guilbaut ed. Theodore Gericault : The Alien Body : Tradition in Chaos. Vancouver 1997. S. 56 ff. / Bergot, Francois :Tout l’oeuvre grave et pieces en rapport (catalogue raisonne of Gericault’s prints). Rouen 1981
28 Michael Paul Driskel :”The Marseillaise” in 1840: The Case of Charlet’s Censored Prints. in: Art Bulletin 69, no. 4,1987. S. 603-24
29 Ursula E. Koch / P.-P. Sagave: Le Charivari: Die Geschichte einer Pariser Tageszeitung im Kampf um die Republik. Köln 1983
30 George Saintsbury ed.: William Thackeray, Paris Sketchbook and Art Criticisms. London o.J. S. 176 ff. /
Judith Wechsler: A Human Comedy: Physiognomy and Caricature in 19th Century Paris. Chicago 1982
31 Nadar´s Serie Monsieur Reac erschien in der von ihm edierten Revue Comique a l´usage des gens serieux. Paris 1848/49
32 David Kunzle: The History of the Comic Strip. The Nineteenth Century. Berkley 1990. S.73 ff.
33 Der Essay wurde zuerst am 1.10.1857 in der Zeitschrift Le Present veröffentlicht und erschien ein Jahr später in dem Magazin Le Artiste. / dtsch. Fassung: Einige Französische Karikaturisten. in: Friedhelm Kemp ed.: Charles Baudelaire. Sämtliche Werke. Bd.1 S. 306 ff.
34 Charles Baudelaire: Salon 1846. in: Friedhelm Kemp ed.: Charles Baudelaire. Sämtliche Werke. Bd.1 Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857 – 1860. S. 268
35 E. und J. Goncourt: Gavarni. Der Mensch und das Werk. Berlin. ca. 1920. S.125
36 Div.: Gabriel P. Weisberg: The Coded Image. Agitation in Caricature. in: The Art of the July Monarchy: France 1830 to 1848. Columbia – London 1990. S.157, 183
37 Kerr S. 104 ff.
38 Rentmeister, Cillie: Frauenbewegung in der Karikatur des 19. Jahrhunderts. in: “Honoré Daumier und die ungelösten Probleme der bürgerlichen Gesellschaft”, Berlin, Stuttgart 1975
39 Der Begriff des Feminismus wird auf Charles Fourier zurückgeführt. Travies war ein Anhänger des fourier´schen Predigers Jean Journard, der vor allem durch seinen prägenden Einfluß auf den jungen Gustave Courbet in die Kunsthistorie eingegangen ist.
40 Claude Ferment: Le caricaturiste Traviès. La vie et l’œuvre d’un “prince du guignon” (1804-1859), Gazette des Beaux-Arts, février 1982, S. 63-78 / Beatrice Farwell ed.: The Charged Image: French Lithographic Caricature 1816-1848. Santa Barbara 1989. S. 149 ff.
41 Die Lithographie erschien als letztes Blatt der Sonderedition Assocation mensuelle, mit der Philipon die hohen Verluste, die ihm durch die Kautionsforderungen der Justiz entstanden waren, zu kompensieren suchte.
42 zitiert nach: Rolf Zbinden und Juerg Albrecht: Honoré Daumier. Rue Transonain, le 15 avril 1834. Ereignis-Zeugnis-Exempel. Hamburg 1989. S. 19 ff.
43 In Karl von Pilotys Gemälde Seni vor der Leiche Wallensteins (1855) wurden diese Ambitionen Daumiers bezeichnenderweise wieder in den Corpus der Historienmalerei zurück überführt.
44 Juerg Albrecht. Daumier. Hamburg 1984. S. 35
45 Henning Ritter: Die Gegenwart als Tatort. Honoré Daumier und Gustave Doré. FAZ, Nr. 179, 4.8.2007
46 Rolf Zbinden und Juerg Albrecht: Honoré Daumier. Rue Transonain, le 15 avril 1834. Ereignis-Zeugnis-Exempel. Hamburg 1989. S.19 ff.
47 Gabriel P. Weisberg: Early Realism. in: Div.ed.: The Art of the July Monarchy: France 1830 to 1848. Columbia – London 1990. S.102 ff.
48 Madeleine Rousseau, Marie-Martine Dubreuil: La vie et l’oeuvre de Philippe-Auguste Jeanron. Paris 2000 / Gabriel P. Weisberg: The Realist Tradition: French Painting and Drawing, 1830 – 1900. Cleveland 1980
49 Er holte Werke ignorierter Künstlern wie die der Brüder Le Nain oder von Jean Siméon Chardin aus den Magazinen und brachte sie zur Hängung.
50 Die Zeichnung war im Besitz von Paul Huet, einem engen Freund Daumiers und Jeanrons. siehe: Weisberg: Early Realism S. 102 ff.
51 Kerr S. 100 ff.
52 Daumier scheint dieser Mängel seiner Rekonstruktion sehr wohl bewußt gewesen zu sein. Ein Jahr später, im August 1835 begab er sich – wie vor ihm bereits William Hogarth – vor Ort, um einen Delinquenten, den anarchistischen Attentäter Guiseppe Fieschi auf seinem Krankenlager zu zeichnen. Es sollte seine einzige Grafik bleiben, die direkt nach dem Motiv entstanden ist.
53 Kerr S.112
54 In der Sammlung des MePri gibt es 10 verschiedene Repliken und Adaptionen des Political House That Jack Built.
55 Marcus Wood: Radical Satire and Print Culture. 1790 -1822. Oxford 1994 / William Hone & George Cruikshank: Facetiae and Miscellanies. London 1827
56 Michel Melot: Daumier in der Kunstkritik. in: Gerhard Langemeyer ed.: Honoré Daumier 1808-1879. Bildwitz und Zeitkritik. Münster 1978. S.37
57 Daumier stellte mit diesen Ambitionen allerdings keine Ausnahme dar. Im Gegenteil. Nur wenige Pressegrafiker der Zeit hatten kein malerisches Werk vorzuweisen.
58 Melot S. 37
59 Melot S.42
60 Häufig kolportiert wird, dass Daumier im Alter völlig verarmt und auf die Unterstützung von Freunden angewiesen war. Juerg Albrecht zufolge beweisen die Dokumente, „daß Daumier in Sammlerkreisen ein hinlänglich bekannter und erfolgreicher Künstler war“ und neben seinen einträglichen Verkäufen in den Genuß einer erheblichen Staatsrente gekommen ist. (Juerg Albrecht: Daumier. Hamburg 1984. S. 100 ff.)
61 Kerr S. 5 („Philipon, who strove throughout his life to have caricature accepted as an artistically significant genre, has been overtaken by the posthumous success of his efforts. His own fame has been eclipsed by that of the artists he promoted, and particulary by that of Daumier.“)
62 Kerr S.41
63 Michel Melot: Entwicklungslinien in der neueren Daumier-Forschung. in: Andre Stoll ed.: Die Rückkehr der Barbaren. Europäer und “Wilde” in der Karikatur Honore Daumiers. Hamburg 1885. S.24 / Werner Hofmann: Daumier und Deutschland. München-Berlin 2004
64 Siegfried Wichmann: Carl Spitzweg und die französischen Zeichner Daumier, Grandville, Gavarni, Dore. Zürich 1985
65 Roger Passeron: Honoré Daumier und seine Zeit, Würzburg 1979. S. 7