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Willibald Krain und die Ashcan School. Die Agonie der sozialkritischen Pressegrafik im 20. Jahrhundert

In einer ausführlichen Besprechung  von Willibald Krains  Anti-Kriegs-Mappe in der Weltbühne vom 21.8.1919  attestierte Kurt Tucholsky dem jungen Breslauer Künstler außergewöhnlichen Mut, ein so explizites antimilitaristisches Opus mitten im Verlauf patriotischer Kriegsjahre veröffentlicht zu haben.  „Krieg“ war Anfang 1916 in drei verschiedensprachigen Versionen in Zürich erschienen und sogleich in allen Ländern, die Krieg führten, verboten worden. Für Tucholsky war Krain der „Künstler, der 1916 gegen den Blutstrom schwamm“ und der sich damit wohltuend  von einer großen Menge von Kollegen abhob, die erst im libertinären Klima der Weimarer Republik, befreit von der Bedrohung durch Restriktion und Zensur, ihre  radikale pazifistische Gesinnung entdeckt hatten. Hierzu waren nicht nur ältere Künstler wie Käthe Kollwitz und Hans Baluschek zu zählen, sondern auch jüngere Nachfolger wie Otto Dix und George Grosz. Tucholsky registrierte in den stark symbolistischen Blättern von Krains Kriegsmappe auch einen Einfluss der Grafiken von Kubin, allerdings habe Krain im Gegensatz zu dem Österreicher „keine Visionen gehabt, sondern nur sehr gute Einfälle.“

Tucholsky verkannte dabei zweierlei: Zum einen war Krains Anliegen nicht privatmythologischer, sondern propagandistischer Natur gewesen, und zum anderen war Kubin selbst, gerade in der Ausgestaltung seiner kriegsdämonischen Visionen, Vorbildern aus dem Feld der französischen Pressegrafik nachgefolgt, an denen auch Krain sich stilistisch orientiert hatte.

> Slideshow: Willibald Krain: Krieg (Blatt 4: Blutrausch)

Neben seiner Mentorin Käthe Kollwitz zählte Krain in den zwanziger Jahren zu den ganz wenigen sozialkritischen  Künstlern in Deutschland, deren Arbeit internationale Beachtung gefunden hatte. Er publizierte in englischsprachigen sozialistischen Magazinen wie dem einflussreichen Londoner New Leader, für den er Coverillustrationen zeichnete. Das von Paul Kellogg edierte New Yorker Survey Magazine, das eines der wichtigsten publizistischen Organe der amerikanischen Arbeiterbewegung war, widmete dem malerischen und zeichnerischen Werk Krains in  seiner Ausgabe vom 1.8.1922 einen zehnseitigen Beitrag mit einer langen Bildstrecke. Dass Krain gerade in  Amerika ein besondere Beachtung fand, kommt nicht von ungefähr, denn seine künstlerische Zielsetzung und seine Handschrift waren nahezu deckungsgleich mit denen der Vertreter der Ashcan Group, der einflussreichsten amerikanischen Künstlerformation der Zeit. Diese lose Gruppierung versammelte eine Reihe von jungen Künstlern wie John Sloan, Robert Henri, Maurice Becker, George Bellows, Boardman Robinson und Stuart Davis.

> Slideshow: Krain / Ashcan School

Wie Krain standen sie stilistisch alle unter dem starken Einfluss einer Richtung der französischen Pressegrafik, die auf  Charles Philipons legendärem Magazin La Caricature aufbaute, auf Zeichnern wie Paul Gavarni, C.J. Travies und Honoré Daumier. Der Kampf der Philipon-Presse um die Durchsetzung bürgerlicher Freiheitsrechte in den 1830er Jahren hatte um die Jahrhundertwende Künstler wie Jules Grandjouan, Frantisek Kupka und Théophile Steinlen zu radikalen Fortführungen inspiriert. In anarchistischen Magazinen wie Le Chambard Socialiste, La Feuille, Le Canard Sauvage und L´Assiette au Beurre hatten sie einen brillanten Standard für eine ausdrucksstarke sozialkritische Grafik gesetzt. In Frankreich selbst war dieser Bewegung mit dem patriotischen Säbelgerassel des Ersten Weltkriegs und dem Siegeszug abstrakter Tendenzen ein jähes Ende gesetzt, im Bereich der internationalen Illustrationsgrafik blieb dieser Impuls jedoch für die kommenden drei Jahrzehnte tonangebend. Dass die internationalen Nachfolger Daumiers und Steinlens allerdings nur wenig Kraft zur  stilistischen Erneuerung aufbrachten und mehr oder weniger in den vorgefundenen Mustern verharrten, trug nicht unwesentlich zur Agonie der sozialrealistischen Bewegung in den  späten dreißiger Jahren bei.

Während die Protagonisten der Ashcan School in ihren Beschreibungen des Großstadtalltags auch  auf eine lange Tradition genuin amerikanischer Sozialgrafik zurückgreifen konnten, die von Künstlern wie Charles Reinhard, Joseph Pennell und Francis Hopkinson Smith geprägt worden war, vermengte sich der französische Impuls im Fall von Willibald Krain, der seit 1913 in Berlin tätig war, mit einer karikaturesken Linie der Milieuschilderung, die von den versöhnlichen Genredarstellungen eines Franz Dörbeck und Theodor Hosemann  ausgegangen war und sich auf dessen Schüler, den populären Heinrich Zille, weiter vererbt hatte. Krain versuchte beides – ein anklagender Steinlen und ein humoriger Zille zu sein.

Für sozialkritische Künstler wie Willibald Krain, Hans Baluschek und die Vertreter der Ashcan Group stellte eine Tätigkeit als Pressgrafiker kein notwendiges Übel zum reinen Broterwerbszweck dar, sondern sie wurde vor allem als eine geeignete Möglichkeit angesehen, die Massen zu erreichen. The Masses hieß  denn auch das 1911 gegründete und kooperativ edierte Magazin, in denen viele der Ashcan-Künstler publizierten.  Es handelte sich dabei allerdings weniger um ein klassenkämpferisches Organ als  vielmehr um ein künstlerisch aufwändig gestaltetes Sprachrohr der in der  Entstehung begriffenen Greenwich Village-Bohème, die sich als„radical chic“ der zwanziger Jahre gerierte. 1916 kam  es denn auch zu einem Showdown zwischen  einer Künstlerschaft, die sich darin gefiel, harmlose Sozialstudien zu produzieren, „Bilder von Ascheimern und  Mädchen, die in der Horatio Street ihre Röcke heben“,1 und politisch ambitionierteren Redakteuren und Cartoonisten wie Max Eastman, John Reed , Art Young und Robert Minor. Der Streit hatte sich an der Frage entzündet, ob es für die Künstler hinnehmbar sie, dass ihren Werken durch redaktionelle Untertitel eine einengende politische Aussage oder eine cartoonartige Pointe untergeschoben wird. Nachdem sie im Verlauf einer redaktionellen Kampfabstimmung unterlegen waren, verließen John Sloan und seine Künstlerkollegen das Blatt. Der pittoreske Sozialrealismus der Ashcan School und der Regionalisten war noch zwei Jahrzehnte lang in Amerika als Ausstellungskunst populär. Angeschossen von den modernistischen europäischen Strömungen, die in der Armory Show publik geworden waren, überlebte der zahnlose Tiger des Sozialrealismus noch  die Depressionsjahre und den New Deal, bevor er dann von seiner eigenen Schülergeneration, den abstrakten Expressionisten, nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig zur Strecke gebracht wurde.

Willibald Krain, dem deutschen Exponenten des Ascheimer-Genres, war, bedingt durch den Fortgang der deutschen Geschichte, ein anderes Schicksal beschieden als Sloan und seinen Genossen. Auch er war von Anfang an mehr durch seine regelmäßigen grafischen Beiträge für Magazine wie Die Jugend, Der wahre Jacob und Kladderadatsch bekannt als durch die Malereien von Sozialmiseren, die er bei den Ausstellungen der Berliner Sezession zeigte. Seit Anfang der zwanziger Jahre war er vertraglich auch an den Ullstein-Verlag gebunden. Kurt Korff, der als  Art Director der Berliner Illustrirten Zeitung das Genre der Bildreportage revolutionierte, hatte Krain neben dem Chefzeichner Fritz Koch-Gotha als Spezialisten für  den Bereich der Sozial- und Gerichtsreportage  engagiert. Am 9.3.1924 erschien in der BIZ ein Krain-Beitrag über den Hitler-Prozess, der ihm nach der Machtübernahme 1933 ebenso zum Verhängnis werden sollte wie seine unzähligen, ätzenden antifaschistischen Cartoons, die er für das sozialistische Karikaturmagazin Der wahre Jacob gezeichnet hatte.

Wie  viele andere sozialistische Künstler der Weimarer Zeit entging er nur mit Mühe dem Konzentrationslager. Die Aufnahme in den Landesverband der deutschen Presse, die er beantragt hatte, um seine Not leidende Familie über Wasser halten zu können, wurde ihm mehrmals, zuletzt am 5.11.1935 verwehrt – mit folgender Begründung: „Sie haben in den Jahren 1932–1933 als Pressezeichner für den ‘Wahren Jacob’ Ihrer Gesinnung und Ihrer Einstellung gegenüber den Nationalsozialisten und Führern der NSAP in derart gemeiner Weise Ausdruck gegeben, daß es nicht verantwortet werden kann, Sie heute noch weiter als Gestalter der Presse zuzulassen.“

Es gelang ihm anscheinend trotz des Berufsverbots, als Pressezeichner vereinzelte Werbeaufträge zu erhalten. 1943 war der mutigste pazifistische Künstler des Ersten Weltkriegs sogar gezwungen gewesen, seine Signatur unter die Illustrationen von kriegstreiberischer faschistischer  Blut-und-Boden-Publizistik zu setzen. In dieser tiefen Tragik war sein Schicksal verwandt mit dem Hans Falladas, dessen sozialkritische Romane Krain in den zwanziger Jahren illustriert hatte.

> Slideshow: Krain und das Dritte Reich

In der Sammlung des MePri befindet sich eine seiner letzten Arbeiten, die  auch eine seiner eindrücklichsten ist. Es  handelt sich um eine großformatige Originalzeichnung von 1944, die offensichtlich für den Druck vorgesehen war.  „Spuk im Morgengrauen“ geißelt die Kriegsverbrechen der Alliierten, die nach den verheerenden Bombardierungen von Dresden offenbar waren. Als hinterhältige „Cheshire Cat“ aus „Alice in Wonderland“ lauert Churchill hier auf allen Trümmern einer traumatischen Bombenlandschaft. Wenige Wochen nach der Entstehung dieser Zeichnung erlag der Pazifist Krain, der achtundfünfzigjährig im Rahmen des „letzten Aufgebots“ zum so genannten “Volkssturm” eingezogen worden war, in einem Dresdner Krankenhaus den Schussverletzungen, die er sich bei der vermeintlichen Flucht aus einem russischen Kriegsgefangenentransporter zugezogen hatte.

Wllibald Krain: Spuk im Morgengrauen. ca. 1944 (MePri-Collection)

1 „Pictures of ash cans and girls hitching up their skirts in Horatio Street“, Art Young 1916 zit. n.  Rebecca Zurier: Art for the Masses. Philadelphia 1988, S. 53.

In der MePri – Sammlung:

Von Willibald Krain:

Die Jugend Nr. 10 München 1915
Willibald Krain: Krieg. (Grafikmappe). Zürich – Berlin 1916
Kladderadatsch. Nr. 39 (Die “Hindenburg- Nummer”). Berlin, 1917
Berliner Illustrirte Zeitung Jhg. 1924
Karl Meyer  / Willibald Krain: Berlin. Ein Heimatbuch. Leipzig 1925
Der Wahre Jakob. Jhg. 1927 / 1928
W.K.: Was der Stammbaum erzählt. München, o. J. (ca. 1943)
W.K.: Spuk im Morgengrauen :”Kinder vergesst es nie.” Zeichnung. Fettkreide, Tusche. 53,3 x 40,0 cm. undatiert. (ca. 1944)

Zu Willibald Krain:

Hans Baluschek: Der Krieg 1914 – 1916. (Grafikmappe). Berlin, 1917
Heinrich Zille: Vadding in Frankreich I. + II. Folge. Berlin, 1915
Ignaz Jezower ed.: Die Befreiung der Menschheit. Freiheitsideen in Vergangenheit und Gegenwart. Berlin 1921
Imrgard Wirth ed.: Berliner Pressezeichner der Zwanziger Jahre. Ein Kaleidoskop Berliner Lebens. Berlin 1977
Georg Pilz ed.: Sozialistische deutsche Karikatur. 1848 -1978. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 1978
Christian Ferber: Zeichner der Zeit. Pressegraphik aus zehn Jahrzehnten. Berlin 1980
Christian Ferber ed.: Berliner Illustrirte Zeitung. Zeitbild, Chronik, Moritat für Jedermann. 1892 – 1945. Berlin 1982
Friedrich Luft ed.: Faksimile Querschnitt. Berliner Illustrirte Zeitung. Berlin 1982
Udo Achten ed.: Lachen Links. Das Republikanische Witzblatt 1924 bis 1927. Berlin 1985
Dieter Lemhoefer: Willibald Krain –  Ein bedeutender Berliner Pressezeichner und Graphiker, Maler und Illustrator aus Schlesien im Spiegel seiner Zeit. Berlin 1987
Udo Achten ed. : Der wahre Jacob. Ein halbes Jahrhundert in Faksimiles. Bonn 1994
Stephan Berg Ulrike Groos, Clemens Krümmel, Alexander Roob ed.: Tauchfahrten. Zeichnung als Reportage. Düsseldorf 2005
Peter Krain: Willibald Krain. Als Künstler gefeiert – verboten – vergessen. Hamburg 2007
Rüdiger Zimmermann ed.: Kampf dem Hakenkreuz. Politische Graphik des Verlags J. H. W. Dietz im antifaschistischen Abwehrkampf. Bonn 2007
Bernd Küster hrsg.: Der Erste Weltkrieg und die Kunst. Von der Propaganda zum Widerstand. Oldenburg 2008

Ashcan School – Masses – New Masses – The Liberator:

Max Eastman: Journalism versus Art. New York, 1916
Michael Gold ed.: The Liberator Vol. 5. No. 7. Chicago, 1922
-:  The Liberator Vol. 6 No. 6. Chicago, 1923
Art Young: On my Way. New York, 1929
William Siegel: The Paris Commune. A story in pictures. New York, 1932
Div. ed.: The New Masses. (Various issues). 1932 – 1947
Hugo Gellert: Karl Marx “Capital” in Lithographs. New York, 1934
Hugo Gellert: Comrade Gulliver. An illustrated account of travel into that strange country the United States of America. New York 1935
Hugo Gellert: Aesop said so. New York 1936
John Nicholas Beffel ed.: Art Young. His Life and Times. New York, 1939
Thomas Craven ed.: A Treasury of American Prints. New York 1939
Joseph North: Robert Minor. Artist and Crusader. New York 1956
Div.: 36 years Drawing. A selection of drawings from “The Worker”. 1924 – 1960. New York, 1960
August L. Freundlich ed.: William Gropper.  Retrospective. Miami 1968
Fitzgerald, Richard: Art and Politics. Cartoonists of the “Masses” and “Liberator”. New York, 1973
Norman Sasowsky: The Prints of Reginald Marsh. An Essay and Definitive Catalogue of His Linoleum Cuts, Etchings, Engravings and Lithographs. New York, 1976
Helen Farr Sloan ed.: John Sloan. New York Etchings. New York – London 1978
Marilyn Cohen: Reginald Marsh’s New York. Paintings, Drawings, and Photographs. New York 1983
Div.: Hugo Gellert. People´s artist. 1892- 1985. New York 1986
Rebecca Zurier: Art for the Masses. A Radical Magazine and its Graphics. 1911-1917. Philadelphia, 1988
William L. O’Neill: Echoes of Revolt. The Masses. New York 1911-1917. New York 1989
John Loughery: John Sloan – Painter and Rebel. New York 1995
Rebecca Zurier: Picturing the City. Urban Vision and the Ashcan School. New York 2006

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